fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Service 1/2023

Lebenswerte Städte

Design your own Kiez

Wie würde Mobilität in deinem Stadtviertel aussehen, wenn du sie selbst gestalten könntest? Das Projekt „Beweg Dein Quartier“ hat es ausprobiert.

Eine Zeichnung des Offenburger Stadtteils Nordend
Johanna SpringerSo schön könnte es im Offenbacher Nordend sein: Für jede Projektidee entwickelten die Beteiligten konkrete Umsetzungsschritte.

Ausdenken, Ausprobieren, auswählen: So könnte man die Phasen eines kollaborativen Stadtprojekts beschreiben, durch das in Offenbach und Essen Bewegung in die Verkehrsplanung gekommen ist. Das Stichwort ist „Co-Kreation“: Bürgerinnen und Bürger entwickeln gemeinsam Ideen für ihr Viertel, setzen diese in Zusammenarbeit mit der Verwaltung testweise um und entscheiden schließlich gemeinsam, wohin die Reise in Zukunft gehen soll. Am Ende stehen 16 Schlüsselmaßnahmen für das Offenbacher Nordend und 13 für das Gebiet nördlich der Essener Innenstadt: komplett mit ersten Planungsentwürfen, Kostenschätzung und Fahrplänen zur Umsetzung. Und vor allem legitimiert durch einen mehrstufigen Dialogprozess mit den Menschen vor Ort. Weil die Stadtverwaltungen von Anfang an beteiligt waren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass aus Visionen Taten werden. Die Städte verpflichteten sich im Vorfeld, zu allen Vorschlägen dokumentierte Stellungnahmen abzugeben und im Falle von Offenbach fünf Ideen aktiv in der Umsetzung zu unterstützen.

Angestoßen und wissenschaftlich begleitet haben „Beweg Dein Quartier“ Forscher*innen der Ruhr-Universität Bochum. Gemeinsam mit dem Stadtentwicklungsbüro „urbanista“ aus Hamburg wollten sie herausfinden, wie man Anwohner, Pendlerinnen, Vereine, Verbände und andere Interessengruppen besser an einer klimafreundlichen Verkehrsplanung in ihrem Wohnviertel beteiligen kann. Denn die Menschen vor Ort kennen ihre Wege und Alltagsbedürfnisse am besten. Wer sie hört, plant nicht am Bedarf vorbei und hat die Chance, Interessenkonflikte frühzeitig zu erkennen und auszuräumen.

Workshops, Umfragen, Feste

Zwar stand das Thema Mobilität im Vordergrund, aber Verkehrsplanung betrifft das ganze Lebensumfeld: „Uns war immens wichtig, die Mobilitätswende mit all ihren Facetten zu betrachten“, so Projektleiter Dr. Jan-Hendrik Kamlage. „Ein lebendiges Viertel braucht lebendige Straßen, die Raum für alle Stadtteilbewohner bieten. Deshalb müssen wir die Verkehrsflächen neu verteilen und die Klimaanpassung gleich mitdenken.“ Um möglichst viele Menschen mit ins Boot zu holen, setzten die Verantwortlichen auf viele unterschiedliche Beteiligungsformate wie Umfragen, Aktionen, Workshops und Straßenfeste. Um die Menschen dafür zu begeistern, ihre Lebensumgebung mitzugestalten, zog das Projektteam alle Register der Öffentlichkeitsarbeit: von Pressearbeit über gezielte Online-Werbung, Plakate, Infostände, Social-Media-Posts bis zur aktiven Ansprache von bereits bestehenden Netzwerken im Viertel. Dafür hat „Beweg Dein Quartier“ sogar eine eigene Marke mit hohem Wiedererkennungswert entwickelt, um mit einer ansprechenden Ästhetik Lust auf Zukunft zu machen.

Ausgerechnet das erste Projektjahr 2020, in dem die Stadt Essen den Auftakt machte, wurde dann von der Pandemie überschattet. Das Team musste umsatteln und die geplanten Ideen-Workshops online durchführen statt wie geplant vor Ort. Wohl auch deshalb war die Resonanz zunächst geringer als erwartet. Trotzdem erarbeiteten die engagierten Teilnehmer*innen eine beeindruckende Agenda für die Verschönerung der Stadt. Die Vorschläge reichen von einzelnen Trinkbrunnen bis zur kompletten Umgestaltung des riesigen Kreisverkehrs am Berliner Platz in Essen. Wo heute mehrspurige Autostraßen zu einer ausladenden Betonwüste zusammenlaufen, würde nach dem Entwurf der Bürger*innen ein attraktiver Boulevard mit breiten Bürgersteigen, Radwegen, Grünflächen und einer verkleinerten Fahrbahn für Autos entstehen.

Die Zukunft im Test

Mehrere Personen stehen auf einem Platz und diskutieren über eine Zeichnung auf dem Boden.
KWI/ Alexander Muchnik, eventfotograf.inEinfach mal machen lassen: Bürger*innen in Essen diskutieren auf einem begehbaren Stadtplan, wie eine Mobilität aussehen würde, die ihren Bedürfnissen entspricht.

Mit den so erarbeiteten Vorschlägen im Gepäck ging es in die Erprobungsphase: Unter dem Motto „1 Monat Zukunft“ wurden ausgewählte Ideen temporär auf die Straße gebracht. So wurde zum Beispiel eine neue Carsharing-Station für den Testlauf eingerichtet, eine Autostraße in eine Spielstraße verwandelt oder ein breiter Mittelstreifen zu einem Park mit einladenden Sitzgelegenheiten umgestaltet. „Es geht um das kreative, gemeinsame Machen auf der Straße“, so Jana Wegener vom Forscherteam. „Besonders wichtig ist es, aus der Phase des Kritisierens herauszukommen und selbst mitzugestalten.“ Gleichzeitig testeten „Mobilitätsheld*innen“ einen Monat lang den Umstieg vom eigenen Auto auf andere Verkehrsmittel – unterstützt durch ein Paket von Gutscheinen für Carsharing, Bikesharing und ÖPNV. Ihre Rückmeldungen helfen wiederum zu verstehen, wo es bei der Mobilitätswende im Quartier noch hakt.

Was „Beweg Dein Quartier“ in Essen und Offenbach letztlich verändert, liegt in den Händen der Verwaltung und der Menschen, die ihre Visionen eingebracht haben und sich jetzt zum Teil weiter für diese engagieren. So manche Idee könnte auch für private Investoren von Interesse sein. So oder so gibt es jetzt eine ganze Schatzkiste an Ideen für die Stadtentwicklung der beteiligten Städte, die weit über ein reines „Wünsch Dir was“ hinaus ausgearbeitet sind. Sie sind auf der sehr schön gestalteten Webseite des Projekts abrufbar. Auch andere Städte können so von den bei „Beweg Dein Quartier“ gemachten Erfahrungen profitieren und in der Kiste das ein oder andere Goldstück finden.

Ute Goerke, Tim Albrecht

Quartiere selbst machen

Das Projekt „Beweg Dein Quartier! Co-Kreative Entwicklung von Stadt-Räumen als Game-Changer für die Mobilitätswende“ der Ruhr-Universität Bochum erprobte und erforschte ­gemeinsam mit dem Stadtentwicklungs­büro „urbanista“ drei Jahre die Mobilitätswende in Wohnquartieren. Gefördert wurde das Projekt im Rahmen der „Nationalen Klimaschutzinitiative“. Die Leitung hatte Jan-Hendrik Kamlage vom Centrum für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE). Neben der wissenschaftlichen Auswertung war das Ziel des Teams, die entwickelten Ansätze auch für Menschen in anderen Kommunen zur Verfügung zu stellen. Dafür wurde das Projekt mit dem Polis-Award für kommunikative Stadtgestaltung ausgezeichnet.

Auf bewegdeinquartier.de sind 58 Interventionen gesammelt, mit denen man seine Nachbarschaft schöner, gemeinschaftlicher sowie rad- und fußgängerfreundlicher machen kann -­ darunter auch VCD-Aktionen wie „12qmKULTUR“.

fairkehr 1/2023