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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Editorial 1/2023

Infrastruktur-Beschleunigungsgesetz

Mit Bleifuß im Rückwärtsgang

Stuttgart 21, BER und die zu langesame Verkehrswende: fairkehr Redakteur Tim Albrecht kommentiert den schleichenden Infrastrukturausbau in Deutschland.

Tim Albrecht, Redakteur

Unsere Regierung ist im Temporausch: Der Kanzler hat eine „neue Deutschlandgeschwindigkeit“ ausgerufen. Der Verkehrsminister strickt an einem „Infrastruktur-Beschleunigungsgesetz“. Und der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil schaltet mit seiner Forderung nach einem „Infrastruktur-Turbo“ sogar noch einen Gang höher.

Was die Gasversorgung betrifft, hat die Regierung angesichts der Erpressung durch Russland in der Tat schnell gehandelt und in kurzer Zeit viel erreicht. Bravo. Unbestritten ist auch, dass sich die großen Infrastrukturprojekte der letzten Jahrzehnte wie Stuttgart 21 oder der BER in einem grotesken Schneckentempo wund gerieben haben. Es stimmt: Das Land braucht Beschleunigung. Nirgendwo mehr als bei der Verkehrswende, damit die Menschen in diesem Land endlich selbstbestimmt, energieeffizient und klimafreundlich unterwegs sein können. Wie schnell die Politik umsteuern kann, wenn der Wille da ist, hat sie bei der schwierigen Abnabelung von russischem Gas bewiesen.

Aus dem Verkehrsministerium kommen jedoch ganz andere Zeichen: Minister Wissing steht zwar auch mit dem Bleifuß auf dem Gaspedal – aber im Rückwärtsgang! Bei einer Veranstaltung im September machte er deutlich, wie wenig er von den Plänen vieler Städte hält, den Autoverkehr zu reduzieren. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Vorrang der Bahn bei Investitionen ist in den bisherigen Haushaltsentwürfen nicht zu erkennen. Und die gesellschaftliche Mehrheit für ein Tempolimit wie auch die parteiübergreifende Initiative von über 400 Kommunen für Tempo 30 bremst der Minister einfach aus.

Jüngst legte das Ministerium eine Liste von Autobahnprojekten vor, die beschleunigt umgesetzt werden sollen, weil sie angeblich unverzichtbar für die  „öffentliche Sicherheit“ seien. Da liest man dann: achtspuriger Ausbau der A3, achtspuriger Ausbau der A4, zehnstreifiger Ausbau der A5 und, und, und.

Das Problem mit Wissings toxischer Liste: Dem Bundesverkehrswegeplan, auf dem sie beruht, liegt keinerlei Vision für die Mobilität der Zukunft zugrunde. Er gleicht eher einer Endlagerstätte für autozentrierte Verkehrsplanungen aus mehreren Jahrzehnten Bundesrepublik, die längst überholt und mit dem Klimaschutz nicht vereinbar sind.

Der Minister weiß das. Deshalb hat er sich einen besonderen Schildbürgerstreich ausgedacht: Weil der Verkehr als einziger Sektor krachend an den Klimazielen scheitert, solle im Klimaschutzgesetz künftig gar nicht mehr zwischen Sektoren unterschieden werden. Es ist, als würde mein Sohn sagen: „Papa, unsere Klasse macht so viele Hausaufgaben, da muss ich meine doch nicht auch noch machen!“ Der politische Taschenspielertrick verrät: Da will sich jemand gar nicht bewegen, sondern den Stillstand zum Prinzip machen.

Tempo allein ist eben kein Wert. Man muss schon in die richtige Richtung fahren. Durch den Bau von Infrastruktur setzt der Staat langfristige Anreize: Je mehr Autobahnspuren wir in diesem Land noch bauen, desto mehr Auto- und Lkw-Verkehr erzeugen wir. Das ist die nicht mehr zeitgemäße Verkehrslogik des 20. Jahrhunderts, die im blinden Mehr motorisierter Maschinen einen Fortschritt sieht.

Also, lieber Herr Minister: Erst mal den Anschluss ans Peloton finden, bevor Sie zum Sprint ansetzen!

Tim Albrecht

fairkehr 1/2023