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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 3/2022

Interview

„Tempo 30 kommt, sobald man uns lässt.“

Bonn will 2035 klimaneutral sein. Dafür muss die Mobilitätswende in der rheinischen Metropole gelingen. Ein Gespräch mit OB Katja Dörner über Pläne, Herausforderungen und den Status quo.

Schafft sie die Mobilitätswende? Oberbürgermeisterin Katja Dörner (Bündnis 90/Die Grünen) vor der Universität Bonn.

fairkehr: Frau Dörner, Ihre Amtskollegin, Bürgermeisterin Anne Hidalgo in Paris, bekommt für ihre Verkehrswende-Politik international Anerkennung. In Deutschland ist diese Vorreiterrolle noch frei. Wäre das was für Sie?

Katja Dörner: Wir haben in Bonn ambitionierte Ziele, was die Mobilitätswende angeht, und setzen diese konsequent um. Sie ist ein zentraler Hebel, um auf kommunaler Ebene Klimaneutralität zu erreichen. Schon vor meiner Zeit, Ende 2019, beschloss der Stadtrat, dass Bonn bis 2035 klimaneutral werden soll. Es ist jetzt meine Aufgabe und auch mein Wille, das umzusetzen.

Damals hat die Stadt den Klima-Notstand ausgerufen. War das nur eine Willensbekundung der Stadt oder hat der Beschluss bindende Wirkung für die Abteilungen der Stadtplanung?

Das ist ein Ratsbeschluss und Ratsbeschlüsse müssen umgesetzt werden. In diesem Fall muss er mit Leben gefüllt, das heißt mit konkreten Schritten hinterlegt werden. Wir sind gerade dabei, einen Pfad bis 2035 zu entwickeln: Bis zu welchem Zeitpunkt müssen wir welche Entscheidungen treffen – und welche Maßnahmen folgen daraus? Diesen CO2-Reduktionsplan wollen wir im Herbst vorstellen, um ihn dann in der Politik zu diskutieren. Den Prozess zur Klimaneutralität haben wir konzernübergreifend angelegt; nicht nur die Stadtverwaltung, sondern auch die städtischen Töchter sind eingebunden: die Verkehrsbetriebe, Energie und Wasser und ebenfalls unsere städtische Wohnungsbaugesellschaft. Eine gemeinsame CO2-Bilanzierung haben wir als Grundlage schon vorgelegt.

Damals hatte der Rat bei der Mobilität einen 75-Prozent-Anteil für den Umweltverbund als Ziel vorgegeben – viel, gemessen an dem, was heute auf Bonns Straßen los ist.

Genau, das ist ambitioniert. Aktuell haben wir 60 Prozent ÖV-, Fuß- und Rad­Anteil. Wir wollen 75 und haben vor, das auch zu schaffen. Dass wir dem Radentscheid beigetreten sind, ist dabei ein Meilenstein.

Klimaneutralität 2035 verlangt eine umfassende Transformation der Stadt. Das sind nur noch 13 Jahre. Sie sagen, Sie sind dabei, Pfade zu entwickeln. Müssten Sie nicht schon viel weiter sein?

Wir müssen auf dem aufbauen, was wir vorgefunden haben. Meine Wahrnehmung ist, dass wir zwar viele Beschlüsse hatten, es mit der konkreten Umsetzung aber noch gehapert hat. Schaut man sich den aktuellen IPCC-Bericht an, dann ist für mich klar, dass wir an den ambitionierten Zielen auf alle Fälle festhalten müssen. Dass wir alles dafür tun müssen, die Beschlüsse auch im städtischen Haushalt so zu unterfüttern, dass wir diese Ziele erreichen können.

Erste Schritte Richtung Verkehrswende haben Sie gemacht. Aber es gibt auch Gegenwind. Wie wollen Sie ein Gesamtkonzept für die neue Mobilität in der Stadt durchsetzen?

Es ist nötig, dass wir den Raum in der Stadt anders verteilen. Dass das nicht konfliktfrei abläuft, war mir klar und ist allen klar, die sich mit Verkehrswende und solchen Verkehrsprojekten beschäftigen. Das Landtagswahlergebnis und das gute Abschneiden der Grünen hier in Bonn haben gezeigt, dass die breite Mehrheit der Stadtgesellschaft die Mobilitätswende positiv sieht. Daraus ziehe ich durchaus Rückenwind für mich und meine Ansätze, auch für die Mehrheit im Stadtrat.

Sie haben den City-Ring für Autos gekappt und das Rheinufer für den Autoverkehr gesperrt, um mehr Platz für Menschen zu Fuß und auf dem Rad zu schaffen. Wegen zusätzlicher Baustellen kam es zu Staus, und die regionalen Medien schlugen Alarm. Beschäftigt Sie das?

Bei Änderungen der Verkehrsführung kommt es anfangs zu Problemen, das ist normal. Für die Mobilitätswende gibt es in einer Stadt wie Bonn nie den optimalen Zeitpunkt. Wir werden immer Baustellen haben, immer irgendwo etwas sanieren müssen. Es gibt Kritik und die ist teils auch berechtigt, aber alles in allem ist das Feedback sehr positiv, insbesondere, wenn Maßnahmen fertig gestellt sind, wie beispielsweise der zunächst umstrittene Radweg in der Rheinaue. Da bekomme ich jetzt viele begeisterte Mails, weil die Menschen sehen, wie Maßnahmen der Mobilitätswende ihren Alltag verbessern und die Stadt lebenswerter machen.

In Umfragen ist die Zustimmung zur Verkehrswende und zu Klimaschutzmaßnahmen meist sehr hoch. Wie wichtig ist Kommunikation, um diesen Schwung mitzunehmen und die Stadtgesellschaft für konkrete Veränderungen zu begeistern?

Es ist sicher die Frage, wie es gelingt, ein größeres Bild zu zeichnen von dem, wohin man wirklich will, damit der Fokus eben nicht auf die eine Maßnahme gerichtet ist, die einen individuell zunächst vielleicht auch mal negativ tangiert – zumindest kurz- oder mittelfristig. Das versuchen wir kommunikativ umzusetzen und immer den Mehrwert der Mobilitätswende für mehr Lebensqualität in der Stadt zu beschreiben. Wir haben in den letzten Monaten angefangen, verstärkt Erklär-Videos und Soziale Medien zu nutzen, um zu zeigen, wo wir hinwollen. Wir möchten die Menschen im Prozess mitnehmen. Beteiligung ist sehr wichtig, das haben wir jetzt nochmal ausgebaut, durchaus auch mit Stellen und einer Verankerung im Dezernat der Oberbürgermeisterin.

Stichwort Beteiligung: Die Stadt hat zwei „Bönnsche Viertel“ ausgewählt, in denen modellhaft verkehrsberuhigende Maßnahmen umgesetzt werden sollen. Welche Idee steckt dahinter?

Das ist ein Baustein für die autoarme Innenstadt, aber im Rahmen eines Mitgestaltungsverfahrens. Wir haben dem Stadtrat mit den Bönnschen Vierteln einen Vorschlag gemacht, der stark auf Einbeziehung der Menschen im Quartier abzielt. Zu sagen: „Wir wollen von euch hören, wie wollt ihr den Platz nutzen, den ihr in eurem Quartier dazugewinnt?“ Das ist nicht nur ein Mobilitätsprojekt, sondern ein Vorhaben, das Mobilität und Zusammenhalt in der Stadt, im Viertel, auf eine ganz großartige Art und Weise zusammenbringt. Wir hoffen, erfahrbare Räume zu schaffen, in denen sich Dinge zum Positiven verändern. Dann kann man einen Roll­out in der Breite der Stadt machen.

Bonn will eine Stadtseilbahn bauen. Wie gehen die Planungen voran?

Die Seilbahn ist ein ganz wesentlicher Baustein der Mobilitätswende. Im nächsten Schritt werden erste Gutachten zu Klima, Naturschutz und anderen Themenbereichen beauftragt und auch der Beteiligungsprozess der Bürger*innen wird fortgesetzt. In der Breite der Stadtgesellschaft gibt es großen Zuspruch. Das Besondere an der Seilbahn ist ja, dass sie ein ÖPNV-Projekt ist und man mit einem ganz normalen Ticket mit Bus, Bahn und Seilbahn richtig gut vernetzt mobil sein kann.

Blick aus dem Büro der Oberbürgermeisterin im Stadthaus Bonn, im Hintergrund Rhein und Siebengebirge.

Sie unterstützen die Forderungen des Bonner Rad­entscheids. Wie wollen Sie diese um­setzen?­

Der Bonner Radentscheid ist das bisher größte Bürgerbegehren Bonns. Die Ziele des Fuß- und Radentscheids haben wir gemeinsam als Stadtrat beschlossen und dafür im Haushalt die finanziellen Mittel von 62 Millionen Euro für die kommenden fünf Jahre eingestellt. Auch für die notwendigen Personalkapazitäten. Derzeit haben wir aber noch größere Schwierigkeiten bei der Besetzung der Stellen: Fachkräfte, insbesondere Ingenieure, sind Mangelware. Ohne die zusätzlichen Fachkräfte können wir noch nicht das Tempo generieren bei der Umsetzung, das ich gerne hätte. Trotzdem haben wir viel angestoßen und bringen in diesem Jahr einiges auf die Straße; dieses Frühjahr haben wir links und rechts am Rhein Radwege ausgebaut bzw. Fahrradstraßen eingerichtet, die den Radverkehr barriereärmer, sicherer und komfortabler entlang des Rheins führen. Auch quer durch die Stadt wird Radfahren attraktiver und sicherer durch die Einrichtung verschiedener Umweltspuren und breiter Radfahrstreifen an mehreren Abschnitten der Ost-West-Achse in Bonn, zum Beispiel auf der Viktoriabrücke und entlang der Oxfordstraße. Aber auch über die Stadtgrenzen hinaus bauen wir schon Radinfrastruktur aus – zum Beispiel die Radpendlerroute zwischen Bornheim, Alfter und Bonn in diesem Jahr.

Sie haben vorher das Ziel 75 Prozent Umweltverbund genannt: Was machen Sie, um den ÖPNV zu stärken?

Wir haben natürlich auch für den ÖPNV sehr ambitionierte Ziele und Vorhaben. Wir sanieren die Betriebshöfe unserer Verkehrstochter SWB Bus und Bahn, und zwar so, dass sie in der Lage sein wird, eine komplett elektrische Busflotte energetisch auszustatten. Das ist beschlossen, mit Zeitplan und Finanzen unterlegt, und das passiert jetzt alles. Das sind Dinge, die nicht so im Fokus sind, wenn man über die Verkehrswende spricht. Aber sie sind die Basis dafür, dass wir unsere Ziele erreichen können. Wir wollen die Elektrifizierung der gesamten Busflotte bis spätestens 2035 abgeschlossen haben, möglichst sogar ein bisschen früher. Aber dafür müssen wir natürlich auch die Möglichkeit schaffen, die Busse zu laden. Neben der Seilbahn verdichten wir auch weiterhin das Bus- und Bahnnetz in Bonn. Bei den Bussen vor allem im Rahmen von Taktverdichtungen und Beschleunigung, indem wir den Weg frei machen und Ampeln optimieren. Wir haben ein günstigeres Schüler*innenticket und ein Sozialticket beschlossen, um den ÖPNV auch preislich attraktiver zu machen.

Und dann braucht man ja auch noch die entsprechende Fahrzeugflotte ...

Die Beschaffung der E-Busse ist be­auftragt, ebenso die von neuen Stadtbahnen. Die brauchen wir, um den Straßen­bahntakt in der Stadt verdichten zu können. Es ist jetzt im wahrsten Sinne des Wortes ganz viel aufs Gleis gesetzt worden, was jetzt sukzessiv umgesetzt wird und was massiv auf die Verkehrswende einzahlen wird. Aber es geht nicht im Handumdrehen.

Im Moment ist der ÖPNV wegen des Neun-Euro-Tickets in aller Munde. Wie kann man den Nahverkehr nach der Pandemie stärken, damit er noch stärker auf die Klimaziele einzahlt?

Der ÖPNV muss nicht nur attraktiver, sondern auch günstiger werden. Das ist Fakt, und das ist auch in Bonn so. Aber das ist der Punkt, den wir als Kommune nicht allein werden schaffen können. Wir müssen weg von der Nutzerfinanzierung im ÖPNV, das ist aus meiner Sicht absolut zentral. Das sagen wir auch nicht nur als Stadt Bonn, sondern wir sagen das im Städtetag unisono. Wir brauchen eine andere ÖPNV-Finanzierung von Bund, Land und Kommunen zusammen. Natürlich wird auch ein Teil noch von den Nutzer*innen kommen müssen, zumindest mittelfristig. Aber dieser Mechanismus, den wir heute haben, dass alle Preissteigerungen quasi automatisch auf die Nutzer*innen umgelegt werden, das kann nicht so weitergehen. Da brauchen wir den Bund und da brauchen wir auch das Land. Für die Verkehrswende ist das eine der wichtigsten Forderungen, die wir von der kommunalen Ebene an die anderen Ebenen haben.

Da stellt sich die Frage: Wie viel Macht hat eine Oberbürgermeisterin eigentlich bei der Umsetzung der kommunalen Mobilitäts­wende?

Die Oberbürgermeisterin hat viel Spielraum. Die größeren Maßnahmen stoße ich in Abstimmung mit meinen Dezernent*innen an. Ich beschäftige mich weniger mit der Frage, wo was auf der Straße markiert wird. Aber wenn wie zum Beispiel derzeit die Oxfordstraße als Ost-West-Achse in Bonn eine Umweltspur bekommt, dann muss ich meinen Haken daruntersetzen. Wir haben uns als Stadtverwaltung vier strategische Schwerpunkte gegeben, zwei davon sind die Klimaneutralität 2035 und die Mobilitätswende. Der Verwaltungsvorstand steht hinter diesen Themen.

Die Stadt hat sich der Initiative Tempo 30 des Städtetages angeschlossen. Wann kommt Tempo 30 flächendeckend in Bonn?

Sobald man uns lässt.

Sie hatten zu Anfang Ihrer Amtszeit schon einen eigenen Vorstoß zu Tempo 30 gemacht. Hat Sie der damalige Bundesverkehrsminister Scheuer ausgebremst?

Ich habe damals Herrn Scheuer geschrieben, ob er uns das modellhaft ermöglichen möchte. Er hat leider abgelehnt. Wir sind eine der ersten Kommunen gewesen, die sich dem Bündnis des Städtetages angeschlossen hat. Ich glaube, mittlerweile sind es 134. Man sieht also: Das ist eine große Bewegung, übrigens auch parteiübergreifend. Der Deutsche Städtetag, in dem Oberbürgermeister*innen aller politischen Parteien vertreten sind, hat gefordert, dass wir Kommunen selbst entscheiden dürfen sollten, wie wir das handhaben wollen. Das ist doch das Mindeste. Es ist mir unverständlich, warum die jetzige Bundesregierung sich immer noch nicht klar dazu geäußert hat, ob das in dieser Legislatur kommt oder nicht.

Im Koalitionsvertrag steht dazu nichts Konkretes.

Stimmt. Aber Bundesverkehrsminister Wissing hat in Interviews geäußert, dass er das den Kommunen in einem größeren Umfang ermöglichen möchte. Was das genau heißt, ist noch offen. Mein Wunsch wäre, dass wir für die Stadt Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit definieren können und Tempo 50 als Ausnahme dort, wo es sinnvoll ist – also andersrum als heute.

Bräuchte es insgesamt mehr Gestaltungsfreiheit für die Kommunen?

Ich finde schon. Das Thema Tempo 30 zeigt das. Zu kaum einem anderen Thema gibt es so viele Bürgeranträge wie zur Einrichtung von Tempo-30-Zonen. Als Stadt müssen wir dann immer sagen: Wir würden ja gerne, aber uns sind bundesgesetzlich die Hände gebunden. Das ist frustrierend für die Bürger*innen, und auch für die Stadtverwaltung. Deshalb würde ich sagen: Ja, mehr Flexibilität wäre gut.

Sie haben noch ein riesiges Projekt, das nicht in Ihren Händen liegt: Der Ausbau der Autobahn 565 mitten durch die Stadt von vier auf sechs Streifen, der seit vielen Jahren beschlossen ist. 300.000 m² grüne oder offene Flächen würden zusätzlich versiegelt. Konterkariert das nicht alles, was Sie sich in Richtung Klima­schutz vorgenommen haben?

Wir haben unsere Einwände als Stadt vorgebracht und dem Bund einen Kompromissvorschlag unterbreitet. Der Stadtrat hat seine ursprüngliche Haltung auch revidiert.

Inwiefern?

Der Rat hatte sich ursprünglich positiv zur Autobahn-Erweiterung positioniert. Als einen der ersten Beschlüsse mit mir als Oberbürgermeisterin haben wir das gestoppt. Unseren Alternativvorschlag hat der Stadtrat beschlossen und im Rahmen unserer Einwände im Verfahren vorgebracht. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es über Änderungen am Bundesverkehrswegeplan  gelingt, die ursprüngliche Planung so nicht umsetzen zu müssen. Nur darüber können wir Einfluss nehmen. Zum Beispiel muss jetzt noch ein Klimagutachten beigebracht werden, das im Vorfeld nicht erforderlich war. Aber die Entscheidung wird letztlich auf Bundesebene getroffen. Wir versuchen wirklich alle Hebel in Bewegung zu setzen. Würde die Autobahn ausgebaut, wäre das katastrophal – auch im Blick auf unsere Klimaziele. Auch hier gilt der alte Satz: Wer Asphalt sät, wird Verkehr ernten. Das ist bei Autobahnen ja hinlänglich belegt.

Interview: Uta Linnert, Tim Albrecht

fairkehr 3/2022