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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 3/2022

Unterwegs an der Seine

Paris: Verkehrswende, mon chéri!

Die Pariser Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo macht Furore mit ihrer Verkehrspolitik. Zu Recht? Eine Aufklärungsreise in die Stadt der Lichter und Lenker.

Unterwegs auf der Rue de Rivoli: Seit die Stadt dem Radverkehr mehr Platz gibt, haben die Pariser*innen ihre Liebe zum Vélo entdeckt.

Mein Stadtführer Laurent ist ein asketischer Typ. Der hagere 50-Jährige im schlichten olivgrünen T-Shirt bietet unter dem Namen „Ecolo Tours“ Führungen durch das grüne Paris an. Zum Enthusiasmus neigt er nicht. Als ich ihn nach den Erfolgen seiner Bürgermeisterin Anne Hidalgo beim Umbau der französischen Hauptstadt zu einer klimafreundlichen Metropole frage, wiegt er den Kopf: „Es gibt viele Versprechen, die noch nicht eingelöst sind. Aber ja, sie hat schon viel getan.“ Nur offensichtlich nicht genug, um dem ökologisch bewegten Laurent ein Lächeln zu entringen.

Das wundert mich. Denn der Name Anne Hidalgo ist in den letzten Jahren zu einer Art Codewort der Verkehrswende geworden. Ein Erkennungszeichen für Leute, die signalisieren wollen, sie wüssten, wo wirklich was vorangeht mit dem Radverkehr, der Verkehrsberuhigung und der grünen Stadt der Zukunft. Ich bin auch so einer. Jetzt bin ich endlich nach Paris gekommen, um mir selbst ein Bild zu machen. Und herauszufinden, was dran ist am Mythos der Magierin der Mobilitätswende.

An unserem Treffpunkt im Schatten des Centre Pompidou schwingen wir uns aufs Rad. Einmal um die Ecke – und wir sind mitten im Verkehrschaos zwischen Autos, Bussen und Baustellen. Hier ist die Stadt eng, laut und dreckig. Kein Wunder, denn Paris ist mit knapp 21.000 Bewohner*innen pro Quadratkilometer die am dichtesten besiedelte Hauptstadt Europas. Wie will man in diesen urbanen Dschungel Schneisen für Radfahrer*innen schlagen?

Ein paar hundert Meter weiter, auf der Rue de Rivoli, die Antwort: Hier hat die Stadt eine von drei Autospuren in einen Zweirichtungsradweg umgewandelt. An anderer Stelle sogar zwei. Ich komme mir vor, wie in einem Vergnügungspark für Radfahrer*innen und gleite geschmeidig durch die Stadt wie ein Kind auf einer Wasserrutsche. Die Hauptverkehrsachse, die auf gut vier Kilometern den Place de la Bastille mit dem Place de la Concorde verbindet, war früher für ihre Staus berüchtigt. Jetzt begegnet uns hier die ganze Artenvielfalt der Mikromobilität: Hollandräder, Lastenräder und Leihräder ebenso wie E-Scooter und Menschen auf halsbrecherisch anmutenden Elektro-Einrädern.

Autos, Räder, Bouquinisten

Paris ist grüner geworden: Straßenszene auf der Rue de la Monnaie, nahe der berühmten Pont Neuf.

Magisch, aber keine Zauberei. Denn Hidalgo setzt nur um, was unter Stadtplaner*innen längst Konsens ist: Wer eine klima- und menschenfreundliche Stadt will, muss dem Auto Platz wegnehmen und dafür mehr Raum für Grünflächen und nachhaltige Mobilität schaffen. Unter Hidalgos Ägide hat die Verwaltung fast flächendeckend Tempo 30 eingeführt, 400 Kilometer neue Radwege eingerichtet und die Zahl der Fahrradparkplätze auf 60.000 hochgeschraubt. Tausende Autoparkplätze wurden entfernt oder dienen jetzt als Ladestellen für E-Autos und Abstellplätze für Mofas und E-Scooter. All diese Zahlen will die Bürgermeisterin in den kommenden Jahren vervielfachen. Während der Pandemie durften Cafés und Restaurants allein 6.800 Parkplätze für temporäre Sitzterrassen nutzen. Diese sollen jetzt bestehen bleiben. Hidalgo lässt keine Krise ungenutzt.

Auf der nächsten Etappe unserer Tour sieht man die Ergebnisse besonders deutlich: Am Nordufer der Seine gehört die ehemalige Stadtautobahn jetzt Radfahrerinnen und Flaneuren. Das Südufer hat einen durchgängig vom Autoverkehr getrennten Radweg bekommen. Hier ist die Straße gerecht aufgeteilt: eine Spur Autos, eine Spur Räder, eine Spur Bouquinisten – die berühmten Pariser Buch- und Ramschverkäufer*innen.

Nach drei Stunden und einer weiteren Flussüberquerung bringt Laurent mich zurück an unseren Ausgangspunkt. So richtig verstehe ich die neue Pariser Verkehrswelt aber erst am nächsten Tag, als ich mich allein auf den Weg mache – weg vom touristischen Paris, rein in den Mobilitätsalltag. Ich fahre kreuz und quer durch die Arrondissements. Erst jetzt fällt mir auf, wie allgegenwärtig das Radfahrersymbol ist. Als hätte ein Verkehrswende-Banksy auf jede Seitenstraße sein Graffiti gesprüht. „Wir sind hier!“ scheinen die weißen und grünen Zeichen zu schreien. Manchmal markieren sie grotesk schmale Fahrstreifen, die im Nichts enden. Manchmal bilden sie abenteuerlich geschwungene Schlangen, auf denen man ihnen quer über Hauptverkehrsstraßen folgen soll. Eine deutsche Straßenverkehrsbehörde würde bei diesem Wildwuchs Schnapp­atmung bekommen.

Dann wieder habe ich kilometerlang freie Fahrt, zum Beispiel auf dem grün gestrichenen Radweg auf dem Boulevard Magenta, der zum Gare du Nord führt. Wer Vorfahrt hat, ist mir oft unklar. Die Radfahrer*innen vor mir strampeln mutig geradeaus, auch wenn ständig Autos und Fußgänger*innen queren. Optimistisch klingeln sie in einem fort, auf Hörvermögen und guten Willen ihrer Mitbürger*innen vertrauend. So entsteht ein neuer Umgang im Verkehr: Chaotisch sagen die einen. Gleichberechtigt sagen die anderen.

Anne Hidalgo hat wahnsinnig viel bewegt und überall in der Stadt einfach losgelegt mit der Verkehrswende. Bis 2026 will sie diesen Flickenteppich konsequent zu einem Radnetz zusammenzufügen und die französische Hauptstadt so „zu 100 Prozent mit dem Rad erfahrbar“ machen. Falls die Bürgermeisterin dieses Versprechen einlöst, lächelt vielleicht sogar Laurent.

Tim Albrecht

Klimaschonend nach Paris

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Direktverbindungen werden von Aachen, Düsseldorf, Dortmund, Duisburg, Essen und Köln angeboten. Reisende im Rollstuhl erhalten den Premiumservice zum Standardtarif.

fairkehr 3/2022