Reise 2/2022
Radreise Limburg, Belgien
Harmonischer Dreiklang
Auf einer dreitägigen Radreise lernen wir das belgische Limburg in all seinen Facetten kennen: mit Heide, Wald und Wasser. Und natürlich auch mit Schokolade, Bier und Fritten.
„Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken.“ Wofür es im Alten Testament überirdischer Kräfte bedurfte, dafür reicht heutzutage ein bisschen Beton. Wir fühlen uns trotzdem ein bisschen wie die Israeliten, die vermeintlich trockenen Fußes das Meer durchquert haben, als wir im belgischen Borijk durchs Wasser radeln.
Denn tatsächlich gibt es dort einen Radweg, auf dem das Wasser direkt neben einem zur Rechten und zur Linken eine Mauer bildet. „Fietsen door het Water“ heißt die Attraktion, bei der wir zwar nicht durchs Meer, aber zumindest mitten durch einen See radeln. Der Radweg liegt tiefer und führt uns unter die Wasserlinie, unsere Köpfe sind auf Höhe der Wasseroberfläche, das Wasser steht uns im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals. Vom Wind gepeitscht, schwappt das Wasser links immer wieder ein bisschen über die Mauer. Lieber nicht nass werden. Wir radeln auf Augenhöhe mit den Enten durch den See – ein neues und schönes Erlebnis.
Drei Tage bin ich mit zwei Freundinnen in der belgischen Provinz Limburg auf Radreise. Drei Attraktionen haben wir uns vorgenommen, die Limburg extra für Radfahrer*innen errichtet hat. „Fietsen door het Water“ ist die eine davon, „Fietsen door het heide“ und „Fietsen door het bomen“ die zwei anderen. Radeln durchs Wasser, durch die Heide und durch die Bäume – jeden Tag steuern wir eines dieser Highlights an. Dazwischen lernen wir die Gegend kennen, trinken belgisches Bier und essen belgische Fritten.
Niederländische Ouvertüre
Unsere ersten Kilometer von Aachen nach Maastricht waren eigentlich nicht geplant (siehe Infokasten), sodass wir einfach den kürzesten Weg parallel zur Straße nehmen und erst mal „Strecke machen“. Die Entschleunigung beginnt ausgerechnet in der Großstadt Maastricht. Erst sind wir begeistert von der Radwegführung durch die Kreisverkehre, dann von den Radwegunterführungen unter den großen Kreuzungen hindurch und schließlich fragen wir uns: Wofür das eigentlich alles, hier fahren doch eh keine Autos? Tatsächlich sind wir mitten im Zentrum von Maastricht reichlich irritiert und wundern uns, ob es an diesem Mittwochvormittag womöglich ein Pkw-Fahrverbot gibt, so fremd kommt uns eine Stadt dieser Größe nahezu ohne Autoverkehr vor. Wir sehen fast nur Busse, Fußgänger*innen und – Radfahrer*innen. Da geht uns direkt mal das Herz auf, besser könnte eine Radreise ja kaum starten. PS: Nein, es gab kein Fahrverbot.
Zwei Stunden, nachdem wir in Aachen aus dem Zug gestiegen sind, kommen wir in Belgien an und haben wenig später die erste Attraktion unserer Bucket List erreicht: Fietsen door het heide. Im Grunde ist es einfach nur eine Brücke über die Autobahn. Doch die Belgier zeigen, wie man aus einer einfachen Brücke eine Attraktion machen kann: indem man ein bisschen Holz und ein bisschen Geld in die Hand nimmt und einen Architekten ins Boot holt. Das reicht schon, um aus einer unattraktiven Straßenquerung ein kleines Highlight zu machen.
Beim Durchfahren fühlen wir uns wie magisch in einen Sog geraten. Die Wände rechts und links neben uns ragen senkrecht in die Höhe. Aber dank der freundlichen Holzlattenkonstruktion ist das alles andere als bedrohlich. Am Scheitelpunkt der Brücke konzentrieren wir uns darauf, den Blick nicht auf die Straße unter uns, sondern auf die Heide rings um uns zu richten. Und natürlich brauchen wir ein Foto. Selbst an diesem Mittwochvormittag dauert es nicht lange, bis ein Radfahrer kommt, dem wir unsere Kamera in die Hand drücken können. Er wohne hier um die Ecke, direkt am Rande der Mechelner Heide, erzählt uns der freundliche Herr. Er fahre regelmäßig hier lang, einfach weil es so schön sei. Das ist es wirklich! „Da vorn könnt ihr einkehren und was trinken“, gibt er uns zum Abschied mit.
Statt an der Landstraße, an der uns der Radweg ausspuckt, seiner Empfehlung nach rechts zu folgen, biegen wir allerdings nach links ab. Denn nur dreieinhalb Kilometer weiter wartet der Bahnhof von As auf uns. Uns zieht es direkt zum Aussichtsturm dort. Oben lernen wir, dass Limburg früher eine Steinkohleabbauregion war. Der Turm, auf dem wir stehen, ist eine Replik des Bohrturms, mit dem André Dumont 1901 die erste Steinkohle in der Provinz Limburg entdeckte. In der Ferne ragen einzelne Bergkuppen als Halden aus dem sonst platten Land.
Obwohl es in As selbst nie ein Bergwerk gab, spielte der Bahnhof bis in die späten 1980er Jahre eine zentrale Rolle, weil von hier viele Bergleute und Kohlewagen zu den nahe gelegenen Steinkohlewerken in Eisden, Waterschei und Winterslag fuhren. Das ehemalige Bahnhofsgebäude beherbergt jetzt ein gemütliches Café, der Bahnsteig fungiert als Terrasse.
Kanon der Künste
Ein ganz anderes Erlebnis erwartet uns in „La Biomista“ am Ortsrand von Genk. Für Kunstlaien wie uns ist der Ort auf den ersten Blick eine Mischung aus Museum, Park und Zoo. Tatsächlich aber ist er das Lebenswerk des Künstlers Koen Vanmechelen, die Verkörperung seiner künstlerischen und philosophischen Vision. Ohne Erklärung ist das für uns schwer zugänglich, aber zum Glück bringt uns Hanna Simons den Ort nahe. Simons arbeitet in der Kommunikation von La Biomista, und wir sind dankbar, dass sie uns in der Welt von Vanmechelen an die Hand nimmt. Alternativ stehen für die Besichtigung Audioguides zur Verfügung.
Hauptthema von Vanmechelens Arbeiten sind die biologische und die kulturelle Vielfalt. „Ende der 1990er Jahre startete er sein ‚Cosmopolitan Chicken Projekt‘, in dem er nationale Hühnerrassen kreuzte. Dabei ging es dem 56-Jährigen nicht um Eier und Hühner, sondern um den Kreuzungsprozess und die Diversität, die daraus entsteht“, erzählt Simons. Das Projekt verhalf Vanmechelen zu internationalem Durchbruch.
La Biomista ist ein Garten aus Ordnung und Chaos, eine Arena aus Kultur und Natur. Neben Kunstskulpturen stehen Lamas und Emus. Echte. An das Atelier des Künstlers grenzt eine Voliere mit Vögeln von verschiedenen Kontinenten. Das ist Teil eines Zucht-, Austausch- und Auswilderungsprojektes. „All das zusammen bildet Vanmechelens offene Universität für biologische Vielfalt“, wie Simons es formuliert. So spazieren wir durch den Park mit seiner Open-Air-Ausstellung und lassen uns auf die zahlreichen (lebenden) Kunstwerke und Installationen ein.
La Biomista ist definitiv ein interessanter und lohnender Stopp, der uns über Diversität, Identität und Globalisierung nachdenken lässt. Danach wieder im Sattel zu sitzen und der belanglosen monotonen Bewegung der Pedale zu folgen, ergänzt sich irgendwie gut. Und einige Kilometer später in der Brauerei Ter Dolen kurz vor dem Ende der heutigen Tagesetappe ein handfestes belgisches Bier in der Hand zu halten, auch. Apropos „in der Hand halten“: Keiner der anderen Gäste verlässt die Brauereigastronomie ohne einen Laib Brot in der Hand. Also erwerben selbstverständlich auch wir eines der Brote, die Ter Dolen mit der beim Brauprozess übrig bleibenden Maische backt. Auch das hat sich gelohnt.
Melodie der Bäume
Am nächsten Morgen dauert es nicht lange, bis erste Parkplatzausschilderungen das Highlight des heutigen Tages ankündigen: den Baumwipfelpfad „Fietsen door het bomen“. Wieso eigentlich Parkplätze? Wer kommt denn hier mit dem Auto her, wo es sich doch um eine ausgewiesene Radfahrattraktion handelt? Entsprechend leer sind die Parkplätze. Zugegebenermaßen allerdings zu dieser Jahreszeit auch der Radweg. Insofern sind die Nebensaison oder aber die frühen Morgen- beziehungsweise späten Abendstunden für den Besuch des Baumwipfelpfads durchaus zu empfehlen. Denn zu den Stoßzeiten ist hier einiges los.
Kein Wunder, denn „Radeln durch die Bäume“ ist ein einzigartiges Fahrraderlebnis. Mit moderater Steigung führt uns der Radweg in einem großen Kreis hinauf in die Baumkronen in zehn Meter Höhe. Wir sagen einem Eichhörnchen Hallo und schauen dem Eichelhäher hinterher, der sich von uns gestört fühlt. Genauso beeindruckt wie von der Natur auf Augenhöhe sind wir von der Konstruktion des Baumwipfelpfads. Die langen Pfähle aus rostbraunem Cortenstahl ähneln den Stämmen der Kiefern um sie herum. Die Idee, die Konstruktion harmonisch mit der Umgebung zu verschmelzen, ist definitiv gelungen.
Auch an diesem Ort sind wir der Geschichte der Region nahe. Denn die Wälder im Naturschutzgebiet Pijnven bestehen größtenteils aus Kiefern, die am Anfang des vorigen Jahrhunderts als schnell wachsendes Gehölz für die Produktion von Grubenholz angepflanzt wurden. Heute versucht man, kleineren einheimischen Bäumen in der unteren Etage des Waldes mehr Platz und Licht zum Wachsen zu geben, um schrittweise zu einem gesunden, ausgewogenen Waldbestand mit kleinen, mittelhohen und hohen Bäumen zu kommen.
Die Bergbauhistorie der Region begleitet uns auch im weiteren Tagesverlauf. Mit be-MINE passieren wir eine der Halden, die zu Landmarken und Naherholungsgebieten umgebaut wurden. Wir fühlen uns unweigerlich an das Ruhrgebiet erinnert. Hier in Beringen wurde aus dem alten Erdaushub ein Erlebnisberg inklusive Mountainbike-Park. Im benachbarten Bergbaumuseum kann man in die Geschichte des Steinkohlebergbaus eintauchen. So viel Zeit haben wir nicht, aber die Aura der Vergangenheit ist auch so allgegenwärtig.
Letzter Akkord im Wasser
Zum Ende der Etappe bekommen wir einen Eindruck, was uns am nächsten Tag erwartet: Wasser. Wir durchqueren den Landschaftspark De Wijers. Er ist ein Flickwerk aus mehr als 1 000 Teichen, die die Mönche der Umgebung einst zur Fischzucht angelegt haben. Ein ausgeklügeltes System aus Deichen und Kanälen entlang der Bäche ermöglicht diese großräumige Teichlandschaft. Zahlreiche Wander- und Radwege und ein Aussichtsturm ziehen heute Erholungssuchende an.
Am nächsten Morgen geht es wahrlich göttlich weiter: im Kloster Herkenrode. Die Abtei ist ein Stück Limburger Geschichte. Einst war es das größte Zisterzienserinnenkloster des Königreichs der Vereinigten Niederlande (siehe auch Kasten „Infos und Tipps“) und war unter anderem für seine grünen und blühenden Gärten bekannt. Die Äpfel der umliegenden Streuobstwiesen werden auch heute noch zu Saft gepresst. Man kann ihn zusammen mit anderen köstlichen Abteiprodukten im Klostershop kaufen oder direkt auf der Terrasse des Restaurants „De Paardenstallen“ genießen. Das Ambiente gefällt – nicht umsonst wurde fünfzehn Jahre lang an der Restaurierung der Klosteranlage gearbeitet.
Nun aber zieht es uns unweigerlich zum Radweg durchs Wasser. Und nach einer knappen Stunde im Sattel sind wir auch schon da. Aus Spaß an der Freude fahren wir mehrmals hin und her. Dann setzen wir uns ins Gras, schauen dem auch um diese Uhrzeit bereits munteren Treiben zu und genießen ein kleines Picknick aus unseren Radtaschen. Es gibt Rühreibrötchen und Bananenbrot.
Den Rahmen unserer Tour bildet der Nationalpark Hoge Kempen, durch den wir zum Abschluss unserer dreitägigen Reise fahren. Auch die nahe Mechelner Heide gehört zu diesem Nationalpark, der Belgiens einziger ist. Ranger Robert Vercruysse erzählt uns davon, wie aus natürlichen Eichenwäldern hier mediterran anmutende Kiefernwälder wurden. Und auch davon, wie der Bergbau das Landschaftsbild verändert hat – nicht nur durch den Anbau der schnell wachsenden Gehölze, sondern auch durch die Abraumhalden. Und unweigerlich werden wir hier auch in die Realität zurückgeholt, denn die Düsenjets des nahe gelegenen Fliegerhorsts am Himmel gehören hier ebenso zum Nationalparkalltag wie die Geräusche von Schießübungen. Abgesehen davon war unsere Tour durchs belgische Limburg aber ein wahrlich harmonischer Dreiklang aus Heide, Wald und Wasser.
Katharina Garus