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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Interview

„Es geht um ein gutes Leben der Menschen“

Über die Komplexität der sozialen Gerechtigkeit und die vielen Versuche, sie zu definieren, spricht der Soziologe Roland Verwiebe im fairkehr-Interview.

Mehrere Menschen stehen an einer Bushaltestelle und warten, alle blicken nach rechts. Eine Radfahrerin fährt vorbei.
Wann kommt der Bus? Lange Wartezeiten machen den ÖPNV oft unattraktiv.

Professor Verwiebe, was ist soziale Gerechtigkeit?

Roland Verwiebe: Soziale Gerechtigkeit ist ein fundamentales Konzept in der Philosophie, der Soziologie und in den Politikwissenschaften. Aber der Begriff ist nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch relevant. Altkanzler Gerhard Schröder hat 1998 eine Wahl mit dem Einfordern sozialer Gerechtigkeit gewonnen.

Was genau soziale Gerechtigkeit ist, ist überhaupt nicht einfach zu beantworten. Es gibt unterschiedliche Versuche, bestimmte Aspekte von Gerechtigkeit zu betonen. Dabei kann es um ein gutes und faires Leben der Menschen gehen, um die Angemessenheit ihrer Lebenssituati­on oder um die Befähigung zur Teilnah­me in unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft. Das interessante an Gerechtigkeit ist, dass es ein sehr stark relationaler Begriff ist. Das heißt, in dem Moment, wo Menschen Gerechtigkeitsurteile formulieren, beziehen sie sich auf andere Men­schen und Gruppen, auf die Situation von Nachbarn oder Kollegen, auf Erfahrungen aus der Vergangenheit.

Aber natürlich gibt es auch weithin akzeptierte Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, die dann als Leitprinzip für die Gesellschaft funktionieren.

Welche Ebenen von sozialer Gerechtigkeit gibt es?

Es gibt verschiedene Zugänge, um über soziale Gerechtigkeit zu sprechen. Auf einer sehr fundamentalen Ebene gibt es die Verwirklichungschancen, wie sie beispielsweise der indische Nobelpreisträger Amartya Sen formuliert. Für ihn dreht sich Gerechtigkeit um so fundamentale Fragen wie den Zugang zu Bildung, zu medizinischer Versorgung oder zu politischen Freiheiten, die die Menschen befähigen, selbstbestimmt zu leben.

Dann gibt es gerade in Deutschland eine starke Tradition der Analyse von Verteilungsgerechtigkeit. Also die Frage, wie gerecht beispielsweise die Steuern sind, oder wie gerecht es ist, dass und wie der Wohlfahrtsstaat umverteilt.

Ein weiterer Zugang zu sozialer Gerechtigkeit ist die Chancengerechtigkeit. Das ist, glaube ich, eine sehr, sehr wichtige Frage. Wie fair, wie gerecht, wie gut im Sinne eines angemessenen guten Lebens für viele sind die Zugänge zu wichtigen Institutionen wie Schulen. Und ein weiterer Zweig der Gerechtigkeitsforschung bezieht sich auf Strukturen und Ordnungssysteme, zum Beispiel, wie gerecht das Justizsystem ist.

Kann man soziale Gerechtigkeit objektiv beurteilen oder bleibt man immer ein Stück weit in seiner subjektiven Sicht gefangen?

Da würden die unterschiedlichen Wissenschaften unterschiedliche Antworten geben. Es gibt sicherlich Strömungen, die zu dem Schluss kommen, objektiv ein Mehr oder Weniger von Gerechtigkeit feststellen zu können. Als empirischer Forscher würde ich sagen, dass es stark variierende individuelle Einschätzungen davon gibt, was gerecht und nicht gerecht ist. Gerade das macht den Gerechtigkeitsbegriff so interessant.

Trotz der starken individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen gibt es aber auf der Gesellschaftsebene natürlich auch Gerechtigkeitsprinzipien, die zu allgemein akzeptierten Normen werden.

Sind soziale Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit zwei Seiten derselben Medaille?

Die Verbindung zwischen Ungleichheit und Gerechtigkeit wird sehr oft hergestellt. Am deutlichsten ist das, wenn wir über Verteilung und Chancengleichheit sprechen, also beispielsweise über den Zugang zu Bildungseinrichtungen oder den Zugang zu medizinischer Versorgung. Ungleichheit beschreibt erst mal nur die Differenz. Sie zeigt, ob die Unterschiede einer x-beliebigen Verteilung groß oder klein sind. Ob man das dann als gerecht bezeichnet oder nicht, ist eine Bewertungsfrage und natürlich auch eine normative Frage.

Wo müssten Städte ansetzen, um Ungleichheiten zu reduzieren?

Da muss man an unterschiedlichen Punkten ansetzen. Der größte Hebel, um Ungleichheit zu reduzieren, sind der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem. Für mich ist der zentralste Punkt, an dem Städte ansetzen müssen, aber das Wohnen.

Wir haben in allen Großstädten fundamentale Probleme mit verfügbarem und bezahlbarem Wohnraum. Was den Wohnungsbau angeht, sind die Kommunen die wichtigsten Spieler, aber was die Wohnungspolitik angeht, ist der Bund gefragt. In Deutschland gibt es viel zu wenig Regulierung für das Spekulieren mit Wohneigentum.

Ein Mann mit hellblauem Hemd und Dunklem Sakko spricht und gestikuliert. Man sieht nur seinen Oberkörper.
Prof. Dr. Roland Verwiebe ist Professor für Sozialstruktur und soziale Ungleichheit an der Universität Potsdam. Neben den Themen Ungleichheit, Armut und Migration forscht er auch zu Lebensqualität und Städtewandel.

Wie sieht es mit anderen Bereichen städtischer Organisation aus?

Ich denke, dass lebenswerte Städte, die mehr Partizipation ermöglichen und Ungleichheit zu reduzieren versuchen, sich überlegen müssten, wie Verkehr funktioniert und wie viel Verkehr wir brauchen. Die Organisation von Verkehr ist ein Werkzeug, um Ungleichheiten zu reduzieren. Zentral ist ein attraktiver, leistungsstarker öffentlicher Nahverkehr. In dem Moment, wo alle fünf Minuten eine kostengünstige Schnellbahn fährt, haben Sie ganz andere Möglichkeiten, aus der Peripherie, an der Sie vielleicht wohnen, weil Sie die Miete in der Stadt nicht bezahlen können, in die Stadt zu kommen, um zu arbeiten, einkaufen zu gehen, etwas mit Ihren Kindern zu unternehmen. 

Und natürlich muss jede Diskussion, die wir heute führen, die Ökologie mitdenken. Wir leben in Zeiten sich stark verändernder klimatischer Bedingungen. Dafür müssen die Städte gewappnet sein, speziell für die älteren Bewohner. Die Hitzewellen, die wir inzwischen haben, sind ein Gesundheitsproblem. Und wenn, jetzt mal pessimistisch gesprochen, in Zukunft zwanzig Prozent der Bevölkerung ihre Häuser im Sommer nicht mehr verlassen können, weil sie sonst einen Hitzschlag bekommen, dann haben wir ein fundamentales Problem mit unseren Städten und damit auch ein Ungleichheitsproblem.

Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland ein? Wo stehen wir in Bezug auf soziale Gerechtigkeit?

Die Corona-Pause funktioniert wie ein Brennglas für unsere Gesellschaft, wir sehen gerade ganz genau, was funktioniert und was nicht. Man sieht zum Beispiel jetzt noch deutlicher, dass das Bildungswesen immense Probleme hat. Die Schulen standen vorher schon mit dem Rücken an der Wand und sie können diese Extraarbeit, die durch Corona entstanden ist, überhaupt nicht bewältigen. Wir sehen auch, dass das Gesundheitssystem in Deutschland eines der besten im internationalen Vergleich ist, und trotzdem ist es sehr schnell an seine Grenzen geraten. Beides wussten wir vorher schon, weil Schulen und Krankenhäuser kaputtgespart wurden.

Wichtig ist, dass wir die unterschiedlichen Probleme nicht isoliert, sondern im Zusammenhang betrachten und nach kreativen Lösungen suchen. Dazu gehört auch, dass wir gesellschaftliche Aufgaben wie den attraktiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in Angriff nehmen. Wir brauchen zeitnah eine flächendeckende und nachhaltige Energieerzeugung. Wir müssen etwas gegen die wachsende Armut und die gleichzeitige und krasse Zunahme des Reichtums unternehmen. Wir brauchen also einen Politikwandel auf verschiedenen Ebenen, davon würden auch die Städte profitieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Katharina Baum

fairkehr 1/2022

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