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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Zu Fuß durch Köln

Das unbekannte Verkehrsmittel

Das Gehen ist die natürlichste Art der Fortbewegung. Doch obwohl wir alle zu Fuß unterwegs sind, hat der Fußverkehr keine starke Lobby. Das spiegelt sich auf unseren Straßen wider.

Frei von Autos und voller Leben: Der Chlodwigplatz in Köln ist für Fußgänger*innen ein Wohlfühlort. Jeden Donnerstag können sie hier auf dem Markt frisches Obst und Gemüse einkaufen.

Kleine Geschäfte und Schnellrestaurants säumen den Chlodwigplatz im Kölner Severinsviertel. Platanen spenden an sonnigen Tagen Schatten. Die Severinstorburg, ein Teil der mittelalterlichen Stadtbefestigung, überragt den Ort wie ein Bergfried. Trotz der lauten Hauptstraße an der Südseite ist der Platz ein Wohlfühlort für die Kölner*innen. Hier treffen wir Verkehrsplaner Arne Blase. Sein Büro „AB Stadtverkehr“ hat für das Severinsviertel Anfang 2021 ein Fußverkehrskonzept geschrieben, dabei Anwohner*innen nach ihren Wünschen gefragt und Mängel erfasst. Blase nimmt die fairkehr-Redaktion mit auf Exkursion durch das Veedel (Kölsch für Stadtviertel). Er zeigt uns vor Ort, wo die Stadt die Bedingungen für Fußgänger*innen verbessern kann.

Obwohl wir alle gehen und die Menschen in Deutschland 22 Prozent ihrer Wege laufen, hat der Fußverkehr keine starke Lobby. Der FUSS e. V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, bei dem Arne Blase im erweiterten Vorstand sitzt, ist die einzige größere reine Fußgänger­lobby­organisation in Deutschland. Der Fußverkehrsinfrastruktur in unseren Städten merkt man das an.

So auch in Köln. Das Severinsviertel liegt im südlichen Teil der Altstadt der Rheinmetropole. Das Quartier ist gut durchmischt. Für eine Millionenstadt erstaunlich ruhige Wohnlagen wechseln sich mit geschäftigen Straßen voller Restaurants, Cafés und Geschäfte ab. Der Stadtteil gilt als das kölscheste aller Veedel. Der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken ist hier aufgewachsen, auch wenn das schon verdamp lang her ist.

Von der Nordwestseite des Chlodwigplatzes geht es in den „Karthäuser Wall“ ab. Die Bürgersteige sind hier schmal, Autos parken mit einem Reifen auf dem Gehweg, Verkehrsschilder und abgestellte Fahrräder sorgen für zusätzliche Engstellen. Eine typische deutsche Seitenstraße. Viele Menschen nehmen gar nicht wahr, dass die Fußgänger*innen hier benachteiligt sind: „Meine Mutter würde sagen: Hier kommt man doch noch vorbei“, sagt Arne Blase. „Dieses mangelnde Selbstvertrauen ist typisch für Fußgänger, die gewohnt sind, dass Autos Vorrang haben.“ Aus seiner Sicht sind die zentralen Kriterien für eine fußgängerfreundliche Stadt, dass auch geh- und sehbehinderte Menschen sich gut bewegen können und sich alle gern im Straßenraum aufhalten. Im Planerdeutsch: „Barrierefreiheit“ und „Aufenthaltsqualität“.

Schlangenlinien mit Rollator

Dass sich Fußgänger*innen dem Autoverkehr unterordnen müssen, war nicht immer so. In Deutschland räumte die Reichsstraßenverkehrsordnung (RStVO) von 1934 – eine Vorläuferin der heutigen Straßenverkehrsordnung – Kraftfahrzeugen erstmals Vorrang ein. Die Verordnung hob alle Geschwindigkeitsbeschränkungen auf. Paragraf 27 legte fest: „An Kreuzungen und Einmündungen haben Kraftfahrzeuge die Vorfahrt vor anderen Verkehrsteilnehmern.“ Außerdem entschieden die Behörden: „Fußgänger müssen die Gehwege benutzen. Fahrbahnen sind auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung mit der nötigen Vorsicht und ohne Aufenthalt zu überschreiten.“ Sinngemäß stehen diese Regeln noch heute im Gesetz.

Vor unseren Augen kämpft sich eine ältere Dame mit Rollator den Gehweg am Karthäuser Wall entlang. Da der Bürgersteig zur Straßenmitte hin leicht abschüssig ist, muss sie gegensteuern und schiebt daher leichte Schlangenlinien. Auch der raue Belag erschwert ihr das Vorankommen. Käme ihr auf Höhe eines Verkehrsschildes jemand entgegen, kämen die beiden nicht aneinander vorbei. Und wenn sie zur Post auf der anderen Straßenseite wollte, hätte sie es schwer, mit dem Rollator zwischen den eng geparkten Autos hindurchzukommen. „Die Post ist ein wichtiges Ziel. Hier fehlt eine Querungsmöglichkeit“, erklärt Blase. Schon auf den ersten Metern der Exkursion wird deutlich: Wer für Fußgänger*innen plant, muss vor allem diejenigen berücksichtigen, die nicht gut zu Fuß sind.

Eine solche barrierefreie Planung kommt allen Menschen zugute. Denn auf breiten, sicheren Wegen ohne Hindernisse macht das Gehen Spaß. Sie laden zum Spazieren ein und ermöglichen es Paaren oder Eltern, mit ihren Kindern Hand in Hand den Bürgersteig entlangzuschlendern, ohne diesen für andere zu blockieren. Bäume, die an heißen Sommertagen Schatten spenden, genügend Sitzgelegenheiten für Pausen, eine ausreichend helle Beleuchtung bei Nacht, Trinkbrunnen, öffentliche Toiletten und Wegweiser zu wichtigen Zielen sind die übrigen Zutaten für eine fußgängerfreundliche Stadt, in der man sich gerne draußen aufhält. 

Diplom-Geograf Arne Blase (49) ist Inhaber des Planungsbüros „AB Stadtverkehr“ in Bornheim bei Bonn.

Die Fähigkeit und der Wille, sich in Menschen mit körperlichen oder sensorischen Einschränkungen hineinzuversetzen, fehlt in Politik und Verwaltung oft. „Ich habe in Düren mal in einer Blindenschule an einem Kurs teilgenommen. Mit verbundenen Augen musste ich mich mit einem Taststock orientieren. Das ist sehr schwierig. Und dass sehbehinderte Menschen von Kindesbeinen an gelernt hätten, sich mit ihren übrigen Sinnen gut zurechtzufinden, ist falsch. Die wenigsten Menschen werden blind geboren“, so Blase. Im Laufe des Lebens entwickle jeder dritte bis vierte Mensch eine Geh- oder Sehbehinderung. Und der Anteil der betroffenen Menschen wachse mit der alternden Gesellschaft.

Menschen mit Geh- und Sehbehinderungen haben zum Teil sich widersprechende Bedürfnisse, die vereint werden müssen. Wer mit dem Rollator, dem Rollstuhl oder mit einem Kinderwagen unterwegs ist, wünscht sich ebene Flächen ohne hohe Bordsteine, an denen die Räder hängen bleiben. Wer sich mit dem Blindenstock durch die Welt tastet braucht, hingegen Kanten, um die Fahrbahn vom Gehweg zu unterscheiden.

Es gibt nur eine Lösung

Um komfortable, sichere Wege für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen zu schaffen, die untereinander um Flächen konkurrieren, gibt es für Blase nur eine Option: „Der Parkraum muss reduziert werden. Das geht nur, wenn die Anzahl der Autos deutlich sinkt. Obwohl in den Innenstädten weniger Menschen leben als vor einigen Jahren und die Haushalte im Durchschnitt weniger Fahrzeuge besitzen, parken so viele Autos in den Innenstädten wie eh und je. Denn es gibt mehr Single-Haushalte als früher.“

In der Bürgerbefragung, die das Büro von Arne Blase für das Fußverkehrskonzept durchgeführt hat, wiesen die Anwohner*innen auch auf den Severinskirchplatz hin. Sie monierten vor allem die Bushaltestelle in einer engen Kurve. Der Bus kann dort nicht bis an den Bordstein heranfahren. Ein großer Spalt zwischen Bordstein und Bus erschwert das Einsteigen mit Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl. Zahlreiche Poller verteidigen den Gehweg vor Falschparker*innen. Für die Fußgänger*innen sind sie eine Barriere. Ein barrierefreier Ausbau, wie ihn das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) bis 2022 vorschreibt, ist am Severinskirchplatz nicht möglich. Die Haltestelle muss verlegt werden.

Aber wie kommt es überhaupt zu einer Haltestelle, die den ÖPNV-Nutzer*innen solche Hindernisse in den Weg stellt? „Der Fußverkehr stand bisher nicht im Zentrum der Stadtplanung“, so Blase. Zwar gebe es inzwischen in vielen Kommunen engagierte Radverkehrsbeauftragte. Aber ein vergleichbares Engagement für Fußgänger*innen sei kaum zu erkennen. Trotzdem sieht der Verkehrsplaner erste Zeichen für einen Kulturwandel: „Wenn Städte neue Mobilitätspläne aufstellen, werden Rad- und Fußverkehr immer öfter zusammen konzipiert, auch aus Gründen des Klimaschutzes. Es gibt sogar erste Kommunen, die gar keine neuen Planungen für den Autoverkehr mehr machen.“

Will eine Kommune einen ersten Schritt in die richtige Richtung machen, bietet sich ein sogenannter Fußverkehrscheck an. Ganz nach dem Motto „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“ erfassen Verwaltung, Stadtplaner*innen und interessierte Bürger*innen auf gemeinsamen Begehungen den Status quo: Wo sind Gefahrenstellen? Wo fehlen Zebrastreifen? Wo müssen Bürgersteige ausgebessert werden? Aber auch: Was läuft schon gut? Damit schaffen sie eine Grundlage dafür, die Lage für Fußgänger*innen in ihrer Gemeinde gezielt zu verbessern. Manche Bundesländer, wie zum Beispiel Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen, unterstützen die Fußverkehrschecks mit Fördergeldern.

Jeder Busfahrt geht ein Fußweg voraus. Mit der Anleitung des VCD können Sie selbst einen Fußverkehrscheck rund um Ihre Haltestelle durchführen. Würde „Severinskirche“ in Köln bestehen? www.vcd.org/artikel/gut-zur-haltestelle-kommen

Qualifiziertes Personal fehlt

Berlin geht noch weiter: Im Januar dieses Jahres hat der Senat der Hauptstadt ein Fußverkehrsgesetz verabschiedet – das bundesweit Erste seiner Art. Das Gesetz soll den Belangen der Fußgänger*innen einen neuen Stellenwert verschaffen. Dabei will die rot-rot-grüne Regierung ein Paket an Verbesserungen erreichen. Dazu gehören längere Ampelphasen, mehr Querungsmöglichkeiten, sicherere Schulwege, zusätzliche Sitzbänke und vor allem: mehr qualifiziertes Personal auf Stadt- und Bezirksebene.

Letzteres ist besonders wichtig. Denn wie Arne Blase uns an einem Beispiel zeigt, sind Vorgaben und Konzepte das eine; aber was wie umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt. An der Severinstraße fällt uns an einer Stelle ein Blindenleitsystem auf dem Asphalt auf, das mit taktilen Punkten und Rillen über die Straße führt. Eine gute Sache, scheint uns. Aber Blase winkt ab: „Laut Planungsvorgaben dürfte das hier eigentlich gar nicht sein, es entspricht nicht den Sicherheitsstandards.“ Das Problem: Wegen Parkplätzen am Straßenrand sehen die Autofahrer*innen querende Fußgänger*innen recht spät. Das kann zu Unfällen führen. „Eine blinde Person wird hier eigentlich in eine Gefahrenstelle geleitet“, so Blase. Auf die Frage, wie es zu solchen Fehlplanungen kommen kann, antwortet der Experte achselzuckend: „Die bittere Wahrheit ist: Oft kennen sich die Verwaltungen und die beteiligten Ingenieure mit den Standards zur Barrierefreiheit nicht besonders gut aus, oder die Infrastruktur stammt noch aus einer Zeit, in der es keine einheitlichen Ausbaustandards gab.“

Ein Satz, der ganz gut beschreibt, was beim Fußverkehr noch alles im Argen liegt. Für das Severinsviertel bleibt zu hoffen, dass die Stadt Köln das vorgelegte Konzept jetzt beherzt umsetzt. Allerdings macht die Personalpolitik der Stadt wenig Hoffnung: Die Stelle eines bereits 2018 fraktionsübergreifend geforderten Beauftragten für den Fußverkehr hat die Stadtverwaltung bis heute nicht ausgeschrieben. Stattdessen hat man die Aufgabe einer bereits bestehenden Ingenieurstelle im Straßenamt zugeordnet. Damit steht Köln symptomatisch für viele andere Kommunen in Deutschland: Die Fußgänger*innen bleiben auf der Prioritätenliste ganz unten.

Benjamin Kühne und Tim Albrecht

fairkehr 2/2021