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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2021

Aktive Welterkundung

Zuhause bleiben?

Lieber nicht zuhause bleiben! Allein oder mit Freund oder Freundin in die Natur auszuschwärmen ist das beste Mittel gegen Pandemie-Verstimmung. Ein Plädoyer für die Befreiung aus dem Eingesperrtsein.

Nach den Aerosolexperten des Landes völlig ungefährlich: einfach in Wald und Feld einen Fuß vor den anderen setzen

„Zuhause bleiben!“ heißt es seit Monaten. Warum eigentlich? Seit Lockdowns nicht mehr beendet, sondern nur noch variiert werden, drehen ja auch robustere Gemüter am Rädchen. Was kann man im Allzeittief der Perspektivlosigkeit tun, damit einem die Decke nicht vollends auf den Kopf fällt? Oder besser, was darf man tun? Schließlich sind wir seit Monaten angehalten, uns gut zu überlegen, ob wir das Haus wirklich verlassen müssen. Und bloß keine Ausflüge zu machen. Von dem, was man Reisen nennt, ganz zu schweigen.

Die Aufforderung, zuhause zu bleiben, wird dabei aber immer sehr wörtlich verstanden. Statt Pläne zu schmieden, wie man seinem Gefängnis auch mal entrinnen kann, ohne sich und andere in Gefahr zu bringen, sollen sich die Leute der häuslichen Tristesse ergeben, dem Eingesperrtsein das Beste abgewinnen, Höhlenkompetenz entwickeln, wie das neuerdings genannt wird. Um dem Volk der Reiseweltmeister die totale Immobilität schmackhaft zu machen, hat die Bundesregierung schon vor Weihnachten lustige Video-Clips ins Netz gestellt, die unter dem Hashtag #besonderehelden inzwischen millionenfach geklickt wurden. Der bekannteste zeigt einen jungen Mann, der sich auf seinem Sofa heldenhaft zu Tode langweilt – als ob es zum Herumsitzen im mentalen Home­office keine Alternative gäbe! Kein Zweifel, dass in einer Pandemie zwischenmenschliche Kontakte reduziert werden müssen – aber warum werben die Krisenmanager des Landes nicht zugleich für das kleine Glück des Naturerlebens – für die aktive Erholung in Wald und Flur oder gelegentliche Ausflüge aufs Land, die die Rückkehr in den verordneten Stubenarrest erträglicher machen? Und warum sehen wir kein Video mit einem Menschen, der sich mit einem schönen Waldspaziergang über Wasser hält?

Das bewährteste Rezept gegen den Horror vacui ist nun mal, hinauszugehen, frische Luft zu atmen, sich wieder einmal als Teil einer Welt zu erfahren, in der man einen Fuß vor den anderen setzt und sich damit erdet.

Wenn die Muskeln Feste feiern

Statt in den eigenen vier Wänden auf die Verbesserung seines Gemütszustands zu warten, könnte man sich also Formen der Draußenseins zuwenden, bei denen „auch die Muskeln ein Fest feiern", wie Friedrich Nietzsche das genannt hatte. Nicht in Gruppenstärke natürlich, sondern allenfalls zu zweit, mit Partner oder Partnerin, mit Freund oder Freundin. Oder eben allein – um festzustellen, dass man sich in der Natur niemals so einsam und verloren fühlt wie in einem Single-Haushalt, egal wie farbenfroh die Bildschirme dort leuchten.

Der Einwand liegt auf der Hand: All das braucht man gar nicht empfehlen, weil es die Menschen sowieso tun. Waren an den ersten warmen Tagen des Februars nicht alle Parkbänke besetzt? Und haben wir nicht die Bilder gesehen, wie die Massen nach dem ersten Schneefall die Schlittenbahnen stürmten, als ob es kein Covid-19 gäbe? Diese Bilder haben sich tatsächlich tief eingebrannt, befriedigt es doch unser Empörungsbedürfnis, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen an den Pranger gestellt werden. Die von solchen Bildern transportierte Botschaft ist aber irreführend. Denn erstens ist die Zahl der sonntäglichen Stadtflüchtlinge aufs Ganze gesehen verschwindend gering. Zweitens sind die Abstände auf Wanderwegen und Schlittenbahnen nicht annähernd so klein wie die in der Fußgängerzone oder bei Lidl und Aldi. Und drittens lassen die dramatischen Berichterstattungen übersehen, dass das Naturerlebnis nicht auf spezielle Ausflugsziele und Tummelplätze angewiesen ist, sondern überall stattfinden kann. An diesem Überall herrscht aber meist gähnende Leere. Was natürlich kaum jemand erfährt, weil hier keine Kamerateams unterwegs sind.

Der Appell, so oft es geht Orte aufzusuchen, an denen man sich frischen Wind um die Nase wehen lassen kann, ist also keineswegs überflüssig. Er ist sogar geboten. Schließlich weiß jeder Psychotherapeut, dass regelmäßige und ausgiebige körperliche Betätigung ein Anti-Depressivum in Pillenform zu ersetzen vermag, bei der Mehrzahl der Patienten jedenfalls. Warum aber kommt all dies im aktuellen Corona-Diskurs nicht vor? Warum wird stattdessen mantrahaft die Formel vom Zuhausebleiben intoniert – als ob man auf Feld-, Wald- und Wiesenwegen von hochtoxischen Aerosolnebeln umweht wäre? Warum liefert man den Couchpotatoes des Medienzeitalters mit dem Lob des Nichtstuns das beste Alibi, das sie je hatten, ihre Lethargie einmal mehr verstärkt und sie damit der Verzweiflung nur noch näher bringt? Wozu soll es gut sein, Woche für Woche all seine Lebensgeister im Keim zu ersticken?

Aktive Welterkundung ist systemrelevant

Mit einer virologisch begründeten Infektionsgefahr lässt sich das Plädoyer für das Pendeln zwischen Bett, Kühlschrank und Fernsehsessel ja nun wirklich nicht erklären. Die Selbstbewegung unter freiem Himmel gehört zu den wenigen Unternehmungen, die epidemiologisch völlig unbedenklich sind, selbst wenn man davor eine Stunde im Auto gesessen hat. Glaubt man Kai Nagel, dem leitenden Mobilitätsforscher der TU Berlin, ist nicht einmal bedrohlich, wenn bei besser werdendem Wetter jetzt mehr Leute nach draußen strömen. Solange die Aktivitäten im Freien stattfinden, „entstehen daraus laut unseren Modellen keine relevanten zusätzlichen Infektionen“, versichert er. Dazu kommt die Tatsache, dass nichts unser Immunsystem mehr stärkt als das aktive Draußensein im Reizklima der Jahreszeiten.

In gewisser Weise kann man den Kontakt- und Reisebeschränkungen aber auch dankbar sein. Den Wenigsten ist ja verborgen geblieben, wie leer sich ein Alltag anfühlt, den wir abgekapselt vor bunten Bildschirmen verbringen, hoffnungslos abgetrennt von allem wirklich Lebendigen. So hat uns der Lockdown die Augen dafür geöffnet, dass wir keiner weiteren Ablösung von der Natur, sondern eher einer Art irdischer Resozialisierung bedürfen – einer Wiederbelebung der existenziellen Wahrheit, dass wir durch unsere biologischen Körper auf Resonanzbeziehungen angewiesen sind. Und dass dieser Austausch mit den Elementen auch und gerade dann Lebenskraft spendet, wenn das Glück des sozialen Miteinanders außer Reichweite und Verreisen erstmal keine Option ist. In der gegenwärtigen Krise käme es deshalb weniger auf das Heldentum der Selbst-Isolation an als auf den Mut, sich als Teil der Natur zu begreifen, die Reize der aktiven Welterkundung also als das zu erkennen, was sie sind: systemrelevant. Systemrelevant auch und gerade in einer auf virtuelle Bezüge setzenden Gesellschaft, in der die Menschen immer öfter keinen Boden mehr unter den Füßen spüren.

Der Psychiater Jan Kalbitz hat deshalb recht, wenn er an Wissenschaftler und Politiker appelliert, „nicht immer nur auf Verzicht und Regeln herumzureiten“. Zur Bekämpfung der Pandemie genügt nun mal das Ernstnehmen der Grundregel, zu unseren Mitmenschen auf Distanz zu bleiben. Wer dies beherzigt, kann und sollte sich so viel Bewegungs- und Lebensfreude gönnen, wie man in dieser schweren Zeit braucht.

Wie lange wir noch auf ein Leben warten müssen, das sich normal anfühlt, steht ja in den Sternen. Umso sicherer ist aber, dass die düsterste Zeit des Jahres hinter uns liegt. Ganz wie im letzten Jahr werden wir auch in diesem Frühling erstaunt sein, mit welch unbändiger Kraft sich die Natur zurückmeldet und was es alles in Gegenden zu entdecken gibt, an denen man bislang achtlos vorbeigefahren ist – auf dem Weg in den Süden oder zum nächsten Terminal. Und man wird erstaunt sein, wie viel Platz in heimatlichen Gefilden ist, wenn man einmal wirklich ausschwärmt, statt seine Unternehmungen auf ein paar wenige Ausflugsziele zu reduzieren. Womöglich tummeln sich hier nur deshalb so viele Zeitgenossen, weil sie sich noch nie wirklich Zeit genommen haben, das eigene Land in seiner Breite kennenzulernen – entschleunigt, zu Fuß oder im Fahrrad-Sattel. 

Gerhard Fitzthum

fairkehr 2/2021