Reise 1/2021
Reisebuchempfehlung
Klavierspiel am Polarkreis
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts brach die Pianomanie über Russland herein. Nicht zuletzt die Konzertreisen von Franz Liszt, der bei seinen Auftritten wie ein Popstar gefeiert wurde, lösten einen derartigen Klavierboom aus, dass viele – vor allem deutsche – Klavierbauer Dependancen im Zarenreich eröffneten und mit ihren Instrumenten gute Geschäfte machten. Die britische Journalistin und Reiseautorin Sophy Roberts hatte die ebenso geniale wie grundverrückte Idee, die Geschichten von Klavieren zu erzählen, die sich wie das Strandgut dieser Modewelle in den endlosen, menschenfeindlichen Weiten Sibiriens verteilt haben. Über zwei Jahre bereiste sie den kalten Kontinent und begab sich detektivisch auf die Suche nach den wenigen Steinwegs, Bechsteins, Beckers, Stürzwages & Co, die unter größten Anstrengungen auf Schlitten, Schiffen und Eisenbahnen bis in die hintersten Winkel der Welt transportiert wurden – immer geleitet von der zutiefst humanistischen Erwartung, dass hinter jedem Klavier eine Geschichte steckt, die einer Erinnerung wert ist.
Herausgekommen ist ein kleines Wunder: ein Buch wie ein einzigartiger, grotesker Auswuchs der Evolution; eine seltene, exotische Spezies, die so eigentlich nicht existieren dürfte. „Sibiriens vergessene Klaviere“ ist zugleich Reisebericht, Handbuch russischer Geschichte und bizarres Archiv an Persönlichkeiten und Lebensgeschichten, aus dem noch Romane entstehen werden. Gemeinsam mit der Autorin lernt man Gegenden kennen, von denen vorher die wenigsten je gehört haben dürften, wie die Aussteigerregion Altai an der mongolischen Grenze, die nördlich des Polarkreises liegende Halbinsel Jamal, die vom Stamm der Nenzen bewohnt wird, oder die im Pazifik liegende, an Japan grenzende Inselgruppe der Kurilen. An all diesen Orten findet Roberts Klaviere und spürt ihren Geschichten nach; und wo sie keine Instrumente findet, bringt sie auch deren Abwesenheit noch zum Sprechen. So entsteht nach und nach ein mehrstimmiges Porträt Sibiriens.
Bei Außentemperaturen im hohen Minusbereich fiebert zwischen den Zeilen die Grundspannung zwischen der kaum auszuhaltenden Gewalt der russischen Geschichte und der Zerbrechlichkeit des Menschen. Die Strafkolonien des Zarenreichs, die Gulags des Stalinismus oder die Grauen der fast zweieinhalbjährigen Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht – sie alle hallen in den Eiswüsten Sibiriens nach. Und ab und zu mischt sich ein kaum hörbarer Ton einer Sonate von Chopin oder einer Sinfonie von Schostakowitsch dazwischen. Ohne großes Aufheben bewahrt Sophy Roberts das Kleine, Menschliche, Wärmende gegen die Gewaltorgie der Geschichte. Wer durch all die Tragödien durchhält, wird mit einem der schönsten, hoffnungsvollsten und doch bescheidensten Schlusskapitel belohnt, das man seit langem gelesen hat.
Tim Albrecht