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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 1/2021

Reisebuchempfehlung

Eine Zugfahrt durchs Leben

Sehnsucht Südtirol: mit der Piz La Ila-Gondelbahn in Alta Badia Richtung Himmel
schweben, die großartigen Dolomiten immer vor Augen

Die Protagonistin nennt es Fabrik. Sie sieht die eingeschaltete Beleuchtung am Berg ihrer Südtiroler Heimat, schaut den hoch- und runterkletternden Lichtern am Hang zu, den Scheinwerfern der Schneeraupen, die die halbe Nacht auf- und abfahren, wie kleine Raumschiffe, brav in der Reihe, um den Skifahrern bis zum Ende der Saison verschneite Pisten bereitzustellen. Das Tal braucht die vielen Skifahrer, um weiter so opu­lent leben zu können wie bisher, glaubt Eva. „Ohne Fabrik keine Touristen, ohne Touristen keine Hotels, ohne Hotels kein Wohlstand. Gelobt sei die sogenannte Fabrik, die zufriedene Skifahrer zu unser aller Wohl produziert“, lässt Francesca Melandri ihre Romanfigur, eine 40-jährige Südtirolerin, auf den ersten Seiten ihres Buches „Eva schläft“ etwas abfällig sagen.

Ich wäre jetzt eigentlich dort, würde auf Skiern die Dolomiten umrunden, durch tiefen Schnee stapfen und aus dem Hochabteital, das heute Alta Badia heißt, mit der Gondel hinaufschweben zu einer Hütte auf zweitausend Metern, in der wir die schönsten Wochen des Winters verbringen. Wenn abends die Schlutzkrapfen auf den Tellern dampfen, ziehen vor dem Fenster Schneekatzen die Piste glatt. An der Bar scherzen die Pistenraupenfahrer mit deutschen Gästen im Südtiroler Dialekt, untereinander sprechen sie ladinisch und ihr Bier bestellen die Männer auf italienisch, weil die Frau, die die Getränke zapft, aus dem Süden Italiens kommt.

Kein Lift dreht sich

Im Corona-Lockdown ist alles anders: Kein Lift dreht sich und kein Hotel hat offen. Stattdessen steige ich gedanklich mit der Romanfigur Eva am Bahnhof Franzenfeste kurz hinterm Brenner in den Zug, fahre mit ihr Richtung Süden und steige erst nach 420 Seiten in Kalabrien wieder aus. Eva fährt aus dem Schnee Südtirols in den südlichsten Zipfel Italiens, um den ehemaligen Carabiniere Vito zu besuchen, der für ein paar Jahre der Partner ihrer Mutter und für sie selbst ein Vater war. Unterwegs auf diesen fast 1 400 Kilometern entfaltet sich das Leben der Südtirolerin und das ihrer Mutter inmitten einer Region Europas, die ein Jahrhundert lang Spielball feindlicher Allianzen war.

Francesca Melandri: Eva schläft. Verlag Klaus Wagenbach, 440 Seiten, 15,90 Euro

Unruhige Jahrzehnte

Die bewegende Reise durch die Geschichte beginnt mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg, nach dem sich die Einwohner Südtirols im falschen Land mit einer ihnen unverständlichen Sprache wiederfanden. Im aufkommenden Faschismus Italiens durften sie öffentlich nur noch Italienisch sprechen, ihre Ortschaften, Berge und Flüsse erhielten italienische Namen. Die ladinisch- und deutschsprachigen Familien wurden vor die Wahl gestellt, entweder ins Deutsche Reich auszuwandern oder als Bürger*innen zweiter Klasse in Italien zu bleiben, das damit begonnen hatte, Menschen aus Süditalien in ihren Dörfern anzusiedeln. Die meisten Südtiroler optierten für die Ausreise, doch dann setzte der Zweite Weltkrieg der Umsiedlung ein Ende. Auch nach dem Krieg kehrte kein Frieden ein. Die Frustration über Italiens Südtirol-Politik entlud sich in Bomben­attentaten. Erst 1969 erreichte Südtirol einen Autonomiestatus, doch erst 1992 einigten sich Österreich, Italien und Südtirol auf eine anerkannte unabhängige Südtiroler Landesautonomie.

In diesen unruhigen Jahrzehnten führten die meisten Menschen in den Südtiroler Dolomitendörfern ein mehr als mühsames Leben. Erst der Wintersport brachte Reichtum. Die Zimmer der Bauern waren plötzlich Gold wert. In den wenigen Wochen der Hochsaison an Touristen vermietet, brachten sie mehr ein als Kühe, die ein ganzes Jahr lang gemolken wurden. Das veränderte alles.

Wer heute durch die wunderschöne Berglandschaft Südtirols reist, spürt nichts mehr von Armut. Südtirol zählt zu den wohlhabendsten Regionen Italiens und der Europäischen Union. Auch die politischen Unruhen stehen nicht mehr im Vordergrund, doch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, vor dem sie vereint mit den Tirolern in Österreich zum Kaiserreich gehört hatten, halten die Südtiroler mit Museen, Skirouten entlang der ehemaligen Fronten und freigelegten Stellungen zur Besichtigung wach.

Viele Menschen pflegen ihr Tirolerisch wie vor den Kriegen, die meisten springen perfekt zwischen ihren Muttersprachen Deutsch oder Ladinisch und dem Italienischen hin und her, die Küchen servieren eine köstliche Mischung aus traditionellen Tiroler Bergbauernrezepten und italienischen Zutaten. Die Südtirolerin Eva in Francesca Melandris Roman möchte nicht mehr gefragt werden, ob sie sich als Deutsche oder als Italienerin fühlt. Sie ist stolz auf ihre Heimat und liebt die Dolomiten, die der berühmte Südtiroler Reinhold Messner einmal „die schönsten Berge der Welt genannt“ hat.

Uta Linnert

Weiterlesen

Marco Balzano: Ich bleibe hier. Diogenes, 285 Seiten, 22 Euro

Wer schon tief drinsteckt in der Geschichte Südtirols kann gleich noch den Roman „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano hinterher lesen. Der Autor schildert den Widerstand eines Südtiroler Dorfes, das die italienische Republik 1950 mitsamt seinem Kirchlein in den Fluten eines Stausees versenkte. Die Geschichte ist sehr berührend und eine weitere gute Grundlage, um im nächsten Südtirol­urlaub die Einheimischen ein bisschen besser zu verstehen.

fairkehr 5/2023