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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Familie 4/2020

Kidical Mass

Gemeinsam aufs Rad

Anfang Juli fuhren fast 400 Radfahrer*innen durch Bonn, mehr als ein Drittel davon Kinder. fairkehr erklärt, worum es bei der „Kidical Mass“ geht.

So könnte es aussehen: Dass Kinder sicher mit dem Rad unterwegs sein können, ist ein Gradmesser für eine fahrradfreundliche Stadt. Mila (6) und Maxi (8) genießen den ungewohnten Freiraum.

Der Bonner Hofgarten hat schon viele Demonstrationen erlebt. In dem von Linden und Kastanien gesäumten Park vor der Uni Bonn protestierten die 68er gegen die Notstandsgesetze und die Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss. Heute hat sich hier eine bunte Gruppe von 400 Radfahrer*innen versammelt, um für kinderfreundliche Städte zu demonstrieren. Es ist der 5. Juli, ein warmer Sommertag; aus einem auf einem Lastenrad montierten Soundsystem dröhnt Reggae, und aus dem Stimmengewirr stechen besonders die Stimmen der Kleinsten hervor: Vom Dreijährigen auf dem Laufrad bis zur Teenagerin auf dem Mountainbike sind alle Altersgruppen vertreten. Bald schwingen sich alle auf ihre Räder, und der Zug macht sich auf zur gemeinsamen Radtour durch die Straßen Bonns.

Genau genommen ist die sogenannte Kidical Mass, zu der die Bürgerinitiative „Radentscheid Bonn“ aufgerufen hat, keine Demonstration. Der Name leitet sich von der „Critical Mass“-Bewegung ab, die 1992 in San Francisco ihren Ausgang nahm. Die Idee: Gruppen von Radfahrer*innen kommen zusammen und erobern sich den Straßenraum, indem sie im Pulk durch die Stadt fahren. Anstatt Plakate zu malen und Reden zu halten, setzen sich die „Critical Mass“-Teilnehmer*innen für die Belange der Radfahrer*innen ein, indem sie einfach tun, was sie fordern: dem Radverkehr in den Städten mehr Platz einzuräumen und es Radfahrer*innen zu ermöglichen, sicher und entspannt von A nach B zu kommen, ohne sich zwischen fahrenden und parkenden Autos hindurchschlängeln zu müssen. Inzwischen ist aus der „Critical Mass“ eine weltweite Bewegung geworden. Allein in Deutschland findet sie in etwa 160 Städten jeden letzten Freitag im Monat statt.

Groß und Klein sammeln sich am Bonner Hofgarten. Im Hintergrund die Uni Bonn.

Radfahren mit gutem Gewissen

Der „Critical Mass“ geht es nicht vorrangig um politische Meinungsäußerung, sondern darum, Präsenz zu zeigen, Spaß am Radfahren zu haben und ein bleibendes Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Trotzdem steckt hinter dem Namen „Critical Mass“ politische Theorie: Sozialwissenschaftler haben herausgefunden, dass die öffentliche Meinung zu gesellschaftlichen Themen wie gleichgeschlechtliche Ehen oder legalem Marihuana-Konsum nicht erst umschlägt, wenn eine Mehrheit diese akzeptiert. Stattdessen reicht eine kritische Masse von etwa 25 Prozent, um politische Veränderungen in Gang zu setzen – ein weiterer Grund, sich öffentlichkeitswirksam fürs Rad einzusetzen, gerade in einer Zeit, in welcher der Auto-Mainstream selbst in einem Land wie Deutschland zu bröckeln beginnt.

Für die knapp 130 Kinder und Jugendlichen, die in Bonn mitfahren, ist die „Kidical Mass“ ein Erlebnis. Die sechsjährige Mila ist stolz, ohne Eltern und nur mit ihrer Patentante hier zu sein: „Es war sehr schön, aber auch ein bisschen aufregend, mitten auf der Straße zu fahren.“

Unser Autor fuhr zusammen mit Sohn Maxi (8) bei der Kidical Mass mit. Maxis Fazit: „Das hat richtig viel Spaß gemacht!“

Kinder wissen aus eigener Erfahrung, dass sie die schwächsten Verkehrs­teilnehmer und besonders auf sichere Radwege und Tempo 30 innerorts angewiesen sind. Aber auf der Fahrt durch die Bonner Nordstadt wird die Freude greifbar, mit der sie nebeneinander und zwischen den Erwachsenen radeln. „So viel Spaß hat Radfahren in der Stadt noch nie gemacht“, sagt Maxi (8), der neben seiner Schulfreundin Rahel auf seinem Mountainbike durch die Altstadt kurvt und dabei neugierig die Lastenräder und Tandems beobachtet, die vor den beiden herfahren.

„Für uns ist es ein wichtiges Ziel, den Radverkehr kinderfreundlicher zu machen“, erläutert Tobias Mandt, Pressesprecher der Bürgerinitiative. „Es muss für Eltern möglich sein, ein achtjähriges Kind allein mit dem Rad loszuschicken, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.“

Auf der Kidical Mass zu beobach­ten: Fahrräder sind in den letzten Jahren größer, vielseitiger und zu einer echten Alternative
für Familien geworden.

Ein bundesweites Aktionswochenende Kidical Mass, zu dem der VCD in einem Aktionsbündnis mit dem ADFC und weiteren Verbänden im März aufgerufen hatte, musste wegen Corona abgesagt werden. Dieses wird jetzt am 19. und 20. September nachgeholt: „Wir wollen, dass sich auch Kinder sicher und selbstständig mit dem Fahrrad in unseren Städten und Dörfern bewegen können“, so Anika Meenken, Sprecherin für Radverkehr beim VCD. „Unter dem Motto „Platz da für die nächste Generation!“ erobern wir mit unseren bunten Fahrraddemos die Straßen in ganz Deutschland zurück.“

Auch im Bonner Hofgarten wird sich dann wieder eine kritische Masse einfinden.

Tim Albrecht

fairkehr 4/2020