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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Interview mit Verkehrsforscherin Julia Jarass

„Große Chance für Städte“

COVID-19 hat gezeigt, dass Städte resilienter werden müssen, um in Krisenzeiten besser zu funktionieren. Verkehrsforscherin Julia Jarass erklärt die Hintergründe im fairkehr-Interview.

Paris baut im Eiltempo sein Radwegenetz aus. Die beliebte Einkaufsstraße Rue de Rivoli im Herzen der Stadt ist nun größtenteils Menschen zu Fuß oder auf dem Fahrrad vorbehalten.

fairkehr: Frau Dr. Jarass, durch die Corona-Pandemie hat sich das Mobilitätsverhalten der Menschen auf der ganzen Welt stark verändert. Welche Chancen ergeben sich dadurch für Städte?

Julia Jarass: Es bieten sich große Chancen, wie man gerade in vielen Städten weltweit sieht. Das Ziel ist, Mobilität trotz Einhaltung der Abstandsregeln zu gewährleisten. Die aktive Mobilität, also Zufußgehen und Radfahren, ist dabei im Vorteil, denn sie stärkt die körperliche und mentale Gesundheit und mindert das Ansteckungsrisiko, da Abstände besser eingehalten werden können. Weil durch die eingeschränkten Reisemöglichkeiten alle viel Zeit vor Ort verbringen, stellt sich die Frage: Wie gestaltet man die Stadt? Gerade in Innenstädten haben viele Menschen keinen eigenen Garten, es drängt sie auf die Straßen und dort brauchen sie Platz. Städte wie Bogotá, Brüssel oder Paris zeigen gerade, was alles möglich ist.  Aber es zeigt sich auch, wie punktuell diese Maßnahmen sind. Auch in Berlin konzentrieren sich die Aktivitäten bisher größtenteils auf einen einzigen Bezirk: Friedrichshain-Kreuzberg.

Welche Maßnahmen, die Städte ergreifen, helfen jetzt besonders gut?

Man hört im Moment viel über Pop-up-Bikelanes. Diese zunächst provisorisch abgetrennten Radspuren hatten die Städte oft schon vor der Pandemie angedacht, so auch hier in Berlin. Deshalb werden diese Radstreifen in den meisten Fällen auch über die Pandemie hinaus Bestand haben. Außerdem gibt es in einigen Städten im Ausland inzwischen immer mehr autofreie Straßen, besonders an Eingängen von Parks, wo jetzt vermehrt Menschen hinströmen In Friedrichshain-Kreuzberg gibt es seit Anfang Mai jeden Sonntag temporäre Spielstraßen. Und das neueste Projekt hier sind die Terrassen für Vieles. Dabei werden Parkplätze für Gastronomiebetriebe oder gemeinnützige Einrichtungen umgewidmet, um mehr Gästen Sitzplätze im Freien zu ermöglichen. Ich finde es sehr spannend, zu beobachten, wie eine relativ zügige Neuverteilung des öffentlichen Raums passiert und Flächen zur Nutzung eingefordert werden, die sonst dem Autoverkehr vorbehalten sind.

Denken Sie, dass außer den Pop-up-Radstreifen noch andere Maßnahmen über COVID-19 hinaus Bestand haben werden? Gerade Parkplätze sind ja hart umkämpft.

Ich denke, das hängt davon ab, wie gut die Maßnahmen von der Bevölkerung akzeptiert werden. Man sieht aktuell bei den temporären Spielstraßen, dass sie von einer großen Anzahl an Leuten unterstützt werden und sich viele freiwillige Helferinnen melden. Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen diesen Raum nicht so einfach wieder aufgeben wollen. Die Frage ist, ob gerade bei den Spielstraßen das hohe zivilgesellschaftliche Engagement über einen längeren Zeitraum geleistet werden kann oder ob dort eine stärkere Institutionalisierung nötig ist.
Wenn Parkplätze wegfallen sollen, gibt es immer erstmal einen Aufschrei. Aber es gibt häufig noch Parkhäuser und Tiefgaragen, die gering ausgelastet sind. Auch ist die temporäre Nutzung von größeren Parkflächen von Supermärkten denkbar. Hier sind kreative Lösungen gefragt, um Parklücken zu identifizieren. Jetzt gibt es die einmalige Chance, schnell Dinge umzusetzen, sich vielleicht auch bei anderen Städten Ideen abzuschauen. Rechtlich gesehen wurden keine neuen Grundlagen geschaffen. Alle coronabedingten Maßnahmen könnten auch nach Corona bestehen, nur führt die Dringlichkeit der Lage momentan zu schnelleren Umsetzungen. Die Verteilung des öffentlichen Raums, die sonst viel zu selten hinterfragt wird, steht plötzlich auf dem Prüfstand.

Dr. Julia Jarass ist Projektleiterin am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt.

Wie kann die Umverteilung des öffentlichen Raums sinnvoll umgesetzt werden?

Stadtstrukturen müssen schnell und kostengünstig angepasst werden können, wie es momentan mit den Pop-up-Radstreifen geschieht. In einem iterativen Prozess bezieht die Stadt die lokale Bevölkerung mit ein und setzt eine Maßnahme erstmal provisorisch um. So kann sie die Neuerung testen und gegebenenfalls verbessen, bevor sie baulich verstetigt wird. Und wenn die Bevölkerung schon darin geübt ist, die Stadt mitzugestalten und immer wieder anzupassen, kann auf dieses Wissen in Krisensituationen schnell zurückgegriffen werden. Das ist sehr wichtig für eine resiliente Stadt.

Wie sieht eine resiliente Stadt aus?

Resilienz bedeutet, dass ein System Störungen vertragen kann und sehr anpassungsfähig ist. Eine resiliente Stadt kann auf kurzfristige Disruptionen reagieren und sich schnell wieder erholen, sich aber auch proaktiv an wandelnde Umweltbedingungen anpassen. Diese Fähigkeit ist nicht nur in Bezug auf COVID-19 wichtig, sondern beispielsweise auch in Bezug auf den Klima- oder demografischen Wandel. Die resiliente Stadtgestaltung stützt sich auf zwei Säulen. Die erste Säule sind die Ressourcen. Das können zum Beispiel Infrastrukturen sein, die möglichst robust und vielfältig aufgebaut sind. Wenn es eine Störung gibt, verhindert die Vielfalt, dass alle Ressourcen gleich stark betroffen sind. Wichtig sind auch sogenannte redundante Ressourcen, also Puffer. Damit können Materialien gemeint sein, aber auch zum Beispiel Personal in Verwaltungen. Die zweite Säule ist die Konnektivität, also die Vernetzung und die Beziehungen in der Bevölkerung und Nachbarschaft. In einer resilienten Stadt sind Ressourcen und Konnektivität möglichst gut entwickelt und eingebettet in elastische Strukturen eines anpassungsfähigen Systems.
Eine resiliente Stadt braucht auch eine resiliente Bevölkerung, die gesund ist und sich nicht gestresst fühlt. Neben der aktiven Mobilität hat auch das Wohn­umfeld große Auswirkungen auf die Gesundheit. Deswegen ist die Planung lebenswerter Städte ein ganz wichtiger Baustein für langfristig resiliente Städte.

Welche Rolle spielt die Mobilität?

Resilienz braucht ein vielfältiges Mobilitätsangebot. Wenn ein Teil ausfällt, wie auf dem COVID-19-Höhepunkt, als der ÖPNV wegen des erhöhten Ansteckungsrisikos kaum noch genutzt wurde, ist es wichtig, andere Bausteine zu haben, auf die man zurückgreifen kann. Nur so kann man verschiedenen Bedürfnissen gerecht werden. Aktive Mobilität spielt dabei eine besondere Rolle, weil sie rein technisch betrachtet wenig anfällig ist. Zufußgehen kann man im Prinzip immer, ohne Hilfsmittel. Auch das Fahrrad ist nicht sehr anfällig, vor allem im Vergleich zu ÖPNV oder Autos. Aktive Mobilität ist für jeden kostengünstig verfügbar, fördert also neben der Gesundheit auch die soziale Teilhabe. Auch für die Stadt ist aktive Mobilität gesund: Wer sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewegt, ist nicht verantwortlich für Emissionen oder Lärm und verbraucht wenig Platz.

Was können Städte aus der COVID-19-Pandemie für die Zukunft lernen?

Sie können lernen, dass schnelle Prozesse möglich sind. Und, dass dieses provisorische Ausprobieren eine gute Möglichkeit ist, um langfristig neue Stadt­strukturen zu schaffen. Und die Menschen, die die neuen Strukturen nutzen, bestätigen der Stadt mit ihrem Feedback, dass ihnen die neue Lebensqualität gefällt. Städte haben jetzt die große Chance, auszuprobieren, wie man Fläche nutzen und Städte umgestalten kann, sodass sie zum zweiten Wohnzimmer werden. Wenn dabei möglichst viele Menschen miteinbezogen werden, stärkt das nicht nur das Lebensgefühl, sondern auch den Zusammenhalt.

Interview: Katharina Baum

fairkehr 3/2020