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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Deutschland-Takt

Bahnverbindungen besser machen

Aufbruchsstimmung für den Schienenverkehr: Das verspricht der Deutschland-Takt. Ist er der Einstieg in die längst überfällige Verkehrswende?

In Zukunft sollen Züge in Knotenbahn­höfen das Umsteigen zu festen Zeiten garantieren.

Vor gut 20 Jahren herrschte schon einmal Aufbruchstimmung für den Schienenverkehr in Deutschland: Die Bundesländer bekamen 1996 die Zuständigkeit für den Nahverkehr auf der Schiene und erhalten dafür seitdem jährlich mehrere Milliarden Euro vom Bund – die dafür ins Leben gerufenen Regionalisierungsmittel. Ein attraktiver Nahverkehr braucht Zuschüsse, weil die Fahrgas­teinnahmen die Kosten nicht decken. Vor allem aber braucht öffentlicher Verkehr jemanden, der die Verantwortung für seine Gestaltung übernimmt.

Der Nahverkehr im Ländertakt

Die klare Kompetenzzuweisung sorgte binnen eines relativ kurzen Zeitraums für neue, moderne Züge und Angebotsverbesserungen: Fast überall fahren die Nahverkehrszüge inzwischen im Stundentakt – jede Stunde jede Richtung immer zur selben Abfahrtsminute. Durch integrale Taktfahrpläne gibt es für das Umsteigen Knotenbahnhöfe, in denen die Züge passgenau aufein­ander­treffen und die Fahrgäste einfach und ohne lange Aufenthalte umsteigen können. „Allgäu-Schwaben-Takt“, „Rheinland-Pfalz-Takt“ oder „Bayerntakt“ sind typische Beispiele. Inzwischen sind integrale Taktfahrpläne, die es zuvor schon in den Niederlanden und in der Schweiz gab, auch im deutschen Nahverkehr länderweit Standard für attraktive Schienenverkehre.

Fernverkehr: nur noch schnell

Schon einmal hatte die Deutsche Bahn für den Fernverkehr ein Taktangebot entwickelt, das ab 1971 zunächst alle zwei Stunden mit Erste-Klasse-Zügen und ab 1979 für den gesamten IC-Verkehr umgesetzt wurde. 1991 begann jedoch das Hochgeschwindigkeitszeitalter. Seitdem ging es der Bahn wie auch der Politik vor allem darum, mit dem ICE möglichst schnelle Verbindungen zwischen den Ballungsräumen anzubieten, auch wenn sie nicht mehr in das Taktsystem passten. Um die Jahrtausendwende wurden zudem die beim Fahrgast beliebten InterRegio-Züge und viele Direktverbindungen zu touristischen Zielen abgeschafft. Das Resultat führte trotz zweistelliger Milliarden­investitionen in Neubaustrecken zur Stagnation im Fernverkehr. Fern- und Nahverkehrsangebot passen seitdem oft nicht mehr zueinander. Welchen Sinn macht es, im ICE mit Tempo 250 und schneller unterwegs zu sein und dann lange auf den Anschluss im Nahverkehrszug warten zu müssen?

2008 war das Geburtsjahr der Initiative Deutschland-Takt, an der der VCD von Anfang an beteiligt war: Ähnlich wie schon in den Niederlanden und in der Schweiz sollen künftig deutschlandweit die integralen Taktfahrpläne von Nah- und jetzt auch Fernverkehr aufein­ander abgestimmt werden. Zusätzlich sollen mehr schnelle Züge zahlreiche abgehängte Städte und Regionen wieder an den Fernverkehr anbinden.

Deutschland-Takt ist machbar

Mit einigen Jahren Verzögerung griff auch die Politik das Konzept auf, und ein Gutachten für das Bundesverkehrsministerium hat 2015 die Machbarkeit des Deutschland-Takts bestätigt. Im Auftrag des Ministeriums wird gegenwärtig in einem Mammutprojekt ein Zielfahrplan für den gesamten Schienenverkehr in Deutschland erarbeitet. Auch der Güterverkehr auf der Schiene soll durch wirtschaftlichere Zugtrassen profitieren. Er wird von Anfang an mitgeplant.

Früher hat man Hochgeschwindigkeitsstrecken für viele Milliarden Euro realisiert und dann erst geschaut, ob man den Fernverkehr attraktiv mit dem Nahverkehr verknüpfen kann – oft ohne überzeugendes Ergebnis. Jetzt wird erst der gewünschte Zielfahrplan unabhängig von der aktuellen Infrastruktur geplant und dann analysiert, welche Strecken dafür aus- oder sogar neu gebaut werden müssen: Die Investitionen in die Schiene können so in Zukunft zielgerichtet und effizient erfolgen.

Der Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen für ICE, hier in der Schwäbischen Alb, kostet viel und bringt oft wenig. Günstige Maßnahmen, wie Überholgleise, sind häufig effektiver, um das Bahnsystem als Ganzes zu beschleunigen.

Der Stand der Planungen kann als minutengenauer, wenngleich schwierig zu lesender Fahrplan für Gesamtdeutschland auf den Seiten des Bundesverkehrsministeriums heruntergeladen werden. Im Frühjahr soll der endgültige Entwurf stehen. Dann will das Ministerium prüfen, ob alle notwendigen Infrastrukturmaßnahmen in ihrer Gesamtheit wirtschaftlich sind.

Ohne volkswirtschaftlich positiven Nutzen erfolgt in Deutschland kein größerer Infrastrukturausbau, obwohl bei diesen Rechnungen der öffentliche Verkehr gegenüber Straßenprojekten systembedingt schlecht abschneidet – unter anderem weil die Reisezeit als verlorene Zeit bewertet wird, obwohl man sie im Zug sinnvoll nutzen kann, anders als der Autolenker, für den die Reisezeit wirklich verloren ist. In der Schweiz macht man das anders: Man strebt einen Verkehrsartenmix – einen Modalsplit – an, baut und steuert dann nach, wenn es sich später nicht rechnet. Würden beispielsweise künftig durch den Gotthardbasistunnel zu wenige Güterzüge rollen, würde die Lkw-Maut erhöht, bis genügend Verkehr auf die Schiene verlagert ist. Für diese Nutzen-Kosten-Rechnungen braucht man Prognosen: Wissen wir aber heute, wie wir im Jahr 2030, 2035 mobil sein werden, mobil sein können?

Bei den derzeit geplanten Schieneninvestitionen erfordert der Deutschlandtakt sehr lange Realisierungszeiträume, und selbst der Beauftragte der Bundesregierung für den Schienenverkehr, Staatssekretär Enak Ferlemann, kommt da schon mal durcheinander: „2020 wollen wir den Zielfahrplan für 2030 fertig haben.“ Richtig ist: Der geplante Zielfahrplan lässt sich bis zum Jahr 2030 mit dem gegenwärtigen Ausbautempo für die Schiene auf keinen Fall realisieren.

Das Gesamtnetz muss passen

Das liegt nicht nur an einigen Großprojekten, die anders als früher jetzt in ein schlüssiges Gesamtsystem Deutschland-Takt passen müssen: Geplant sind die Beschleunigung der Strecke Ruhrgebiet–Berlin mit einer Neubaustrecke Bielefeld–Hannover, ein Fernbahntunnel unter Frankfurt am Main hindurch, der Ausbau von Mannheim–Frankfurt–Fulda und die Beschleunigung Würzburg–Nürnberg auf eine Fahrzeit von einer knappen halben Stunde.

Viel wichtiger als diese Großprojekte ist die Ertüchtigung des Gesamtnetzes für größere Verkehrsströme und zur Bewältigung der in Deutschland auf nur zwei Gleisen fahrenden Züge im Nah-, Fern- und Güterverkehr. Alle fahren mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Haltesystematiken.

Es ist aber nicht nur die Überlastung des Schienennetzes durch zu viele Züge, die heute zu unpünktlichen Zügen führt: Von 1998 bis 2018 wuchsen die Zugkilometer auf dem DB-Netz gerade einmal um 14,8 Prozent. Schlimmer ist der jahrzehntelange Rückbau des vorhandenen Netzes. Weil unter anderem die Zahl der Weichen halbiert worden ist und viele Überhol­gleise nicht mehr existieren, können die Züge nur dann störungsfrei fahren, wenn der Fahrplan optimal eingehalten wird. Kommt es zu Störungen oder Umleitungen durch Baumaßnahmen, fehlen sofort die dann notwendigen Kapazitäten, um den Verkehr flexibel zu disponieren und Züge auch mal außerplanmäßig zu überholen, um zum Fahrplan zurückzukehren.

Grund ist der betriebswirtschaftliche Zwang, bei dem jeder Infrastruktur ein bestimmter Wert zugemessen wird. Was im Regelfahrplan nicht gebraucht wird, verursacht demnach nur Kosten und kann bzw. konnte beseitigt werden. Im Schienenverkehr kommt es aber zwangsläufig zu Störungen, und sei es durch „zu lange Haltezeiten wegen zu vieler Fahrgäste“. Mittlerweile hat die Bahn keine Reserven mehr, der Rückbau ist zu weit gegangen, das Personal zu stark reduziert und der Verkehr wächst jetzt so sehr, dass pünktliche Züge auf überlasteten Strecken die Ausnahme geworden sind. Ein Deutschland-Takt kann deshalb nur funktionieren, wenn das Netz deutlich leistungsfähiger und robuster wird und wenn es aus der Zwangsjacke des politisch verordneten Sparzwangs befreit wird.

Zugpferd für die Verkehrswende

Ohne Zweifel: Der künftige Deutschland-Takt ist der „beste Schienenverkehr für die Mobilität von Menschen und Gütern“, wie es ein Kommunikationskonzept im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums formuliert. Dafür braucht es aber vor allem im dichtbesiedelten Nordrhein-Westfalen noch viel Fortschritt. Dort fahren die Züge heute selbst im Nahverkehr statt mit sonst über 90 Prozent oft nicht einmal zu 80 Prozent pünktlich, nicht einmal 60 Prozent der RE-Linien kommen pünktlich an.

Zu den unpünktlichsten Strecken in ganz Deutschland gehört die linksrheinische Strecke zwischen Köln und Bonn, auf der heute schon täglich über 35 000 Menschen unterwegs sind. Dort kann die Kapazität allenfalls noch mit längeren Zügen gesteigert werden. Der Deutschland-Takt sieht zwar deutliche Verbesserungen vor, erfordert aber auch zusätzliche Gleise, etwa für eine S-Bahn. Wann diese kommen, ist jedoch völlig unklar: Statt 2030 ist derzeit die Zeitangabe „20irgendwann“ zutreffend. Schon 2021 soll hingegen der „leistungsgerechte Ausbau“ der bisher vierspurigen Stadtautobahn (ohne Standstreifen) durch das nördliche Bonner Stadtgebiet zu einer sechsspurigen Vollautobahn (mit Standstreifen) beginnen. Dieser Ausbau erhöht die Kapazität auf der Straße also um mehr als 50 Prozent.

Dieser Vergleich von Schienen- und Straßenausbau zeigt, dass der Deutschland-Takt einstweilen leider keineswegs den Aufbruch zur Verkehrswende darstellt, sondern nur den überfälligen Einstieg in eine attraktive Schiene. Als Schritt in die richtige Richtung lässt er gleichwohl hoffen.

Karl-Heinz Rochlitz 

fairkehr 1/2020