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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Interview mit Verkehrssenatorin Regine Günther

Mobilitätsgesetz nicht sofort umsetzbar

Im Juni 2018 verabschiedete die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin das erste Mobilitätsgesetz Deutschlands. Verkehrssenatorin Regine Günther im fairkehr-Interview.

Sicher durch Berlin radeln: der neue geschützte Radweg an der Hasenheide.

Frau Günther, vor 17 Monaten hat Ihre Regierung das Mobilitätsgesetz verabschiedet. Wie beurteilen Sie den Stand der Umsetzung?

Regine Günther: Wir haben in kurzer Zeit sehr viel gestemmt. Wir sind dabei, ein Mobilitätssystem, das 70 Jahre auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet war, jetzt auf ganz neue Füße zu stellen. Strukturell, gesetzlich, finanziell und, das ist wichtig, auch gesellschaftlich.

Es gibt auch viel Kritik: Den zivilgesellschaftlichen Initiativen, die das Gesetz angestoßen haben, fehlen die sichtbaren Fortschritte.

Die Hoffnung in der Gesellschaft war, dass man sehr schnell, quasi von heute auf morgen, schon in der Breite eine andere Infrastruktur sieht. Das ist schlechterdings nicht möglich. Wir haben leider ein sehr niedriges Niveau vorgefunden und müssen auch heute noch die Planungen ganz neu ausrichten. In den ersten Monaten war viel Grundlagenarbeit nötig. Mittlerweile sieht man an verschiedenen Stellen, in welche Richtung es geht.

Können Sie Beispiele nennen?

Wir haben geschützte Radwege gebaut, zum Beispiel am Dahlemer Weg, an der Holzmarktstraße, an der Hasenheide. Weitere sind in Planung. Wir haben rund 10 000 neue Fahrradbügel in der Stadt aufgestellt und viele Kilometer Radfahrstreifen zur besseren Sichtbarkeit grün eingefärbt. Wir sind dabei, den Radverkehrsplan für ein dichteres Radnetz in der ganzen Stadt zu erarbeiten. Die Planung für 100 Kilometer neuer Radschnellwege läuft, der Baubeginn ist ab 2022.

Der Weg vom politischen Beschluss bis zur Umsetzung einer Baumaßnahme ist oft sehr lang und bürokratisch. Müssen Sie erstmal Ihre Verwaltung reformieren, bevor Sie das Gesetz umsetzen können?

So weit würde ich nicht gehen. Aber Prozesse müssen deutlich verschlankt werden. Wir haben in Berlin die Besonderheit eines zweistufigen Verwaltungssystems, bei dem die Bezirke für die Umsetzung zuständig sind. Das macht es nicht einfacher. Da gibt es sehr viele Schnittstellen – und an jeder einzelnen kann es zu Friktionen und Verzögerungen kommen. Deshalb analysieren wir, wie wir die Entscheidungsprozesse beschleunigen können.

Von einigen Initiativen war zu hören, die Stadt habe gar nicht die Planer, die die Verkehrswende umsetzen könnten. Stimmen Sie zu, und wenn ja: Was tun Sie, um diesen Missstand zu beheben?

Wir haben die Zahl der Planer vervielfacht, vor allem im Bereich Radverkehr. Wir haben eine landeseigene Gesellschaft gegründet, die infraVelo GmbH, die jetzt um die 30 Mitarbeiter hat. In der Hauptverwaltung haben wir eine Koordinierungsstelle Rad- und Fußverkehr eingerichtet. Wir finanzieren jedem Bezirk zwei Radplaner, doch nicht alle haben das bereits umgesetzt. Manche haben noch keinen einzigen eingestellt, andere bereits fünf.

Laut einer Greenpeace-Studie von 2018 gibt die Stadt Utrecht 130 Euro pro Einwohner für den Radverkehr aus, Berlin aber nur 4,50 Euro. Ist das nicht zu wenig?

Ich habe das Ressort im Dezember 2016 übernommen. 2017 lagen wir bei 1,40 Euro pro Kopf, 2021 werden es 9 Euro sein. Man kann uns nicht mit Städten vergleichen, die seit Jahrzehnten den Radverkehr fördern.

Aber 9 Euro sind immer noch zu wenig.

Ja, es soll und wird auch mehr werden, aber es braucht auch eine Hochlaufphase. Das Geld allein hilft wenig, es muss auch ausgegeben werden können. Wir haben für diese Legislatur 200 Millionen Euro, das ist nicht wenig. Wir bauen die Strukturen und das Personal sukzessive auf, um es wirkungsvoll einzusetzen. Aber es gibt auch ganz praktische Probleme: Zurzeit müssen wir Projekte nicht selten mehrmals ausschreiben, bis wir überhaupt eine Baufirma finden. Wir werden all diese Hemmnisse überwinden. Aber es ist alles andere als ein Selbstläufer.

Regine Günther, Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, arbeitet an der Verkehrswende für Berlin.

Wie stark sind die Konflikte, wenn es um konkrete Maßnahmen geht, etwa wenn Sie Parkplätze umwidmen?

Das ist unterschiedlich. Bei einigen Radwegen gab es zweijährige Diskussionen über die Parkplätze, die wegfallen. Am Ende haben sich die Leute für gute Radwege entschieden. Wir werden stets sehr intensiv im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern bleiben.

Wie führen Sie diesen Dialog?

Die Bürgerbeteiligungen sind in die Verfahren fest integriert. Bei den Radschnellwegen haben wir bereits in einem früheren Stadium Bürgerversammlungen abgehalten, als das gesetzlich notwendig gewesen wäre. Das ist ein sehr integrativer Prozess.

Vor einigen Monaten haben Sie eine Debatte über eine mögliche Citymaut in Gang gebracht. Braucht Berlin eine Citymaut, um den Umweltverbund voranzubringen?

Ich glaube, wir brauchen beides, Push- und Pull-Faktoren. Auf der einen Seite müssen wir Anreize setzen, damit Menschen umsteigen. Dafür brauchen wir einen sehr guten ÖPNV. Um dies zu gewährleisten, sind wir gerade dabei, viele neue S- und U-Bahn-Wagen zu beschaffen. Die schmutzigen Dieselbusse sollen schnell auf saubere und leise Elektro-Busse umgestellt werden. So können wir mehr Komfort und eine dichtere Taktung anbieten. Diese Anstrengungen wollen wir auch mit finanziellen Impulsen unterstützen.

Mit einer Maut?

Es gibt unterschiedliche Ansätze, ich bin da noch nicht festgelegt. Augenblicklich lassen wir die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Modelle untersuchen. Ziel ist es aber, sowohl eine weitere Einnahmequelle für den ÖPNV zu generieren als auch monetäre Anreize für den Umstieg auf den Umweltverbund zu setzen. Diesen doppelten Effekt wünsche ich mir.

Sie kennen die Arbeit der Umweltverbände gut, haben 16 Jahre lang das Energie- und Klimareferat des WWF geleitet. Was kann der VCD tun, um Sie bei der Umsetzung der Verkehrswende in Berlin zu unterstützen?

Eine Verwaltung kann so ein Mammutprojekt nicht im Alleingang umsetzen. Es muss von einer Gesellschaft getragen werden, die sagt: Ja, wir wollen diese Stadt verändern. Die Verbände als Teil der Zivilgesellschaft sind natürlich dafür prädestiniert, diese Diskussionen zu führen. Ohne die Vorfeldarbeit der letzten Jahre wäre die Stimmungslage eine ganz andere gewesen.

... und das Mobilitätsgesetz wäre gar nicht verabschiedet worden.

Das Gesetz geht originär auf eine zivilgesellschaftliche Initiative zurück. Die Zivilgesellschaft spielt eine unglaublich große Rolle dabei, diesen Prozess zu gestalten, mitzutragen und auch vorzudenken.

Bis wann wollen Sie den Systemwechsel in der Mobilität in Berlin geschafft haben?

Ein erster wichtiger Meilenstein ist 2030. Auch auf dem Weg dahin wird schon viel passieren. So werden wir an vielen S-Bahnhöfen Fahrradparkhäuser errichtet haben. Sehr viel mehr Hauptstraßen werden gesicherte Radwege haben, die Radschnellverbindungen werden eine ganz neue Qualität in die Stadt bringen. Es werden Plätze umgebaut sein, denn es geht ja nicht nur um Mobilität. Wir wollen die Flächen in der Stadt neu verteilen, auch für andere Nutzungen wie etwa Spielplätze oder für Grünflächen. In Zeiten des Klimawandels brauchen wir mehr Parks, mehr Bäume zur Verschattung und sehr viel mehr Versickerungsflächen für Regenwasser. Wir werden in kurzer Zeit auf ganz viele Fragen vollkommen neue Antworten finden müssen.

Interview: Uta Linnert, Tim Albrecht

fairkehr 5/2019