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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Editorial 1/2019

Ein Lungenarzt, Verkehrsminister Scheuer und Diesel-Abgase

Ungesunder Menschenverstand

Foto: Marcus GlogerMichael Adler, Chefredakteur

Wie tief sind wir gesunken? Journalisten unterscheiden Wissenschaft nicht mehr von Propaganda. Minister stellen offensiv die Gewaltenteilung, den zentralen Kontrollmechanismus der Demokratie, in Frage. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer ruft Kommunen auf, gegen geltendes Recht vorzugehen.

Doch der Reihe nach. Ein pensionierter Pneumologe namens Dieter Köhler schrieb auf zwei Seiten einfach seine persönliche Meinung auf: Es gebe keine wissenschaftliche Begründung für die Stickoxid- und Feinstaubgrenzwerte, die in einigen Städten zur Anordnung von Fahrverboten für Dieselfahrzeuge führten.

Köhler hat selbst nie zu dieser Thematik geforscht. Die weiteren 111 Ärzte, die sein Papier unterzeichneten, sind in der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin deutlich in der Minderheit. 97 Prozent ihrer Mitglieder haben die Meinungsäußerung nicht unterschrieben. Aus gutem Grund. Weltweit weisen über 30 000 Studien nach, dass Stickoxid und Feinstaub die Gesundheit der Menschen gefährden.

Wie schaffte es ein wissenschaftlicher Laie auf die Titelseiten vieler Zeitungen, warum wurde er im „heute-journal“, bei „Anne Will“ und „hart aber fair“ in den Expertenstand erhoben, obwohl er nicht die geringste Forschungsexpertise nachzuweisen hat? Weil er Aufregung in eine eh schon aufgeheizte Debatte bringt? Weil er der deutschen Automobilindus­trie nützt? Weil das journalistische Ethos verlangt, objektiv beide Seiten zu Wort kommen zu lassen? Dieses Ethos verlangt allerdings auch, die Glaubwürdigkeit der zitierten Quellen, O-Töne und Interviewpartner hart zu prüfen.

Für Verkehrsminister Andreas Scheuer kam das Theater zur rechten Zeit. Er rief die von Fahrverboten betroffenen Kommunen zum Boykott der Fahrverbote auf. Das gesprochene Recht passt ihm nicht in seinen ideologischen Kram: Bei der unsicheren wissenschaftlichen Lage müsse die Verhältnismäßigkeit der Fahrverbote ernsthaft infrage gestellt werden, sagte der Minister. Dabei ist die wissenschaftliche Lage eindeutig. Die juristische im Übrigen auch. Die Grenz­werte sind geltendes Recht.

Ebenfalls im Januar hatte Scheuer den Vorschlag seiner Expertenkommission, ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen als Mittel des Klimaschutzes einzuführen, strikt zurückgewiesen. Das sei „gegen jeden Menschenverstand“. Sind wir jetzt auch in Deutschland so weit, dass der ungesunde Menschenverstand eines Ministers über wissenschaftlicher Erkenntnis und über dem Recht steht?  

Mit dieser Methode rückt Scheuer an die Seite der Trumps, Erdogans und Orbans, die Wissenschaft ignorieren und Studien verbieten, die sich ihrer Ideologie entgegenstellen. Und die alles dafür tun, um Gewaltenteilung, eine zentrale Säule der Demokratie, auszuhöhlen.

Mir graut vor Minister Scheuers ungesundem Menschenverstand. Ich danke deutschen Gerichten für ihre Unabhängigkeit und appelliere asn meine Kolleginnen und Kollegen der vierten Gewalt, der Medien, ihre Kontrollfunk­tion zu erfüllen und nicht jedem Scharlatan, der Schlagzeilen verspricht, auf den Leim zu gehen.

Mit besorgten Grüßen

Michael Adler, 
Chefredakteur

1/2019