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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 4/2018

Alberghi Diffusi

Mach ein Hotel aus deinem Dorf!

Not macht erfinderisch: Viele von Entvölkerung bedrohte Bergdörfer in Italien kommen mit dem Tourismus-Konzept „Alberghi Diffusi“ wieder auf die Beine.

Apricale in Ligurien gilt als eines der schönsten Dörfer Italiens. Aber auch dieser Ort drohte, zur Geisterstadt zu werden.

Schenkt dir das Leben Zitronen, mach‘ Limonade draus, besagt ein amerikanisches Sprichwort. Unter diesem Motto könnte ein faszinierendes Tourismus-Konzept aus Italien stehen: die sogenannten Alberghi Diffusi („verstreute Herbergen“), die in den letzten Jahren in vielen Dörfern in strukturschwachen Regionen entstanden sind. Diese oft in wunderschönen Landschaften wie im Piemont oder Ligurien gelegenen Dörfer leiden unter Bevölkerungsschwund. Gerade die jungen Dorfbewohner sehen in ihrer Heimat keine Perspektiven und ziehen in die Städte. Zurück bleiben regelrechte Geisterdörfer. Die Häuser stehen leer, die historische Bausubstanz verfällt. Ortschaften mit jahrhunderte­alter Geschichte sterben aus.

So viel zu den Zitronen. Was wie ein Schicksal erscheint ­­­– die fortschreitende Verstädterung, die in vielen Regionen Europas zu beobachten ist ­– wollten ­einige Gemeinden nicht einfach hinnehmen. Sie suchten nach Wegen, wieder Geld und Menschen in ihre Dörfer zu bringen. So wurde die Idee der „Alberghi Diffusi“ geboren: Könnte man nicht aus dem Dorf als Ganzem ein Hotel machen, indem man die leer stehenden Häuser als Unterkünfte vermietet und die üblichen Hotelleistungen über das Dorf verteilt? Statt im sterilen Hotelsaal gibt es Frühstück in der lokalen Bäckerei. Statt sich in der Lobby aufzuhalten, sitzt man gemütlich auf dem Dorfplatz. Und das Abendessen wird in der Trattoria um die Ecke serviert. Wäre es für Besucher nicht spannender, ins lokale Schwimmbad zu gehen als in den Hotelpool?

Das Konzept ging auf. Als Urheber der Idee gilt der italienische Tourismus-Berater Giancarlo Dall‘Ara. Bereits in den frühen Achtzigern stellte er Überlegungen zu den Alberghi an. Heute ist Dall‘Ara Präsident des Verbands der Alberghi Diffusi, zu dem über 100 Dörfer, Weiler und historische Ensembles gehören. Der Verband stellt sicher, dass die wichtigsten Prinzipien gewahrt bleiben: Die Bevölkerung selbst muss die Initiative ergreifen und investieren. Es soll nicht neu gebaut oder angebaut werden. Denn der besondere historische Stil des Ortes ist zentrales Qualitätsmerkmal eines Albergo Diffuso. Daher sind nur Umbauten im Bestand erlaubt. Und: Der Gast muss einen Ansprechpartner vor Ort haben und eine Möglichkeit, sich zu verpflegen.

Der Erfolg der Hoteldörfer ist auf eine klassische Win-win-Situation zurückzuführen: Die Touristen schätzen die ungewöhnliche Erfahrung, als Besucher am Dorfleben teilzunehmen. Für die Hausbesitzer lohnt es sich wieder, ihre Häuser instand zu halten, da sie sich die Baukosten über Vermietung zurückholen können. Die lokale Infrastruktur wird unterstützt, weil das Geld nicht bei einem externen Hotelunternehmer bleibt, sondern alle Angebote der Gemeinde genutzt werden. Und das macht es für die lokale Bevölkerung wiederum attraktiver, im Ort zu bleiben. Viele Dörfer wie zum Beispiel Apricale in Ligurien konnten sich so vor dem totalen Verfall retten. Der Ort gilt als einer der schönsten Italiens.

Da verwundert es nicht, dass das Modell inzwischen international Schule macht. Der kleine Ort Schmilka in der Sächsischen Schweiz verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Im „kleinsten Dorf der Schweiz“ Corippo im Tessin bemüht sich eine Stiftung, den Ort zu einer Albergo Diffuso zu machen. Hier hatten zuletzt nur noch 13 Menschen gelebt. Für den gesamten Alpenraum stellen die Alberghi Diffusi eine interessante Variante des Tourismus dar, schließlich kennen viele Täler in den Alpen das Problem der Entvölkerung der kleinen Dörfer (siehe vorstehenden Bericht zu „Whatsalp“).

In Italien reicht das Angebot inzwischen vom ganz einfachen Mitleben in einem vom Tourismus kaum veränderten Ort über Öko-Dörfer, die von Aussteigern neu belebt wurden, bis zu liebevoll restaurierten Gutshäusern, in denen man die Luxusvariante der Alberghi genießen kann. Dazu gehört etwa das Hotel Sextantio im Abruzzen-Dorf Santo Stefano di Sessanio.

Auch wenn das Konzept überzeugt, kann der Weg zu einem Hoteldorf steinig sein. Erstmal müssen sich die Dorfbewohner auf ein gemeinsames Engagement einigen. Und dann geht die Arbeit an den oft verfallenen Häusern und Straßen erst richtig los. Davor müssen manchmal durch lange Vererbung komplizierte Besitzverhältnisse geklärt werden. Und natürlich gibt es auch die Kritiker, die sagen, dass eine oft auf die Sommersaison beschränkte Belebung keine wirkliche Rettung eines Dorfs sei. Nicht jedem schmeckt Limonade. Mancher bevorzugt die Zitronen.

Tim Albrecht

4/2018