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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2018

Entschleunigung

Wider die Vermüllung der Welt

Das Wort Entschleunigung ist durch den Konsum verbraucht, den es ursprünglich kritisieren wollte. Der Sache nach brauchen wir Entschleunigung aber mehr denn je.

Alle wollen entschleunigen. Die entsprechenden Vorsätze liegen, wie jedes Jahr zum Jahreswechsel, in der Schublade bereit: Dieses Jahr nehme ich mir mehr Zeit für mich. Dieses Jahr gehe ich weniger Projekte an, aber die richtig. Dieses Jahr lasse ich das Überflüssige weg und konzentriere mich auf das Wesentliche.

Entschleunigung ist ein Wort, das keinem wehtut. Das überall Zustimmung erntet. Das macht skeptisch. Denn Worte, die keinem wehtun, sind Modeworte: Sie versprechen Vieles, aber bleiben vage. Wie gemacht für die Zentralen der vagen Versprechen, die Werbeagenturen. Du willst entschleunigen? Kauf Dir den Urlaub. Kauf Dir die Yogamatte. Kauf Dir die Bewusstheits-App.

Dieser Imperativ der Entschleunigung richtet sich an den Einzelnen, frei nach dem Motto: „Du musst Dein Leben ändern!“Jedes Regal einer Buchhandlung hat eine eigene Variante zu bieten: „Sei achtsamer!“ (Lebenshilfe/Spiritualität), „Koche gesünder und nachhaltiger!“ (Slow Food), „Strebe nach Resonanz!“ (Soziologie), „Reise mit Muße!“ (Slow Travel). Das Wort tut keinem weh – aber es trifft einen Nerv.

Ein Wort wie ein Kruzifix

Bevor das Wort populär wurde, war es kantiger. Seit 2000 steht die Entschleunigung im Duden. Dort landen die Worte erst, wenn sie schon zugeschliffen sind. Einzelne Verwendungen des Begriffs sind bis in die 1950er Jahre nachweisbar. Zu einem handfesten Wort verdichtet hat sich dieser Sprachpartikel erst im Rückstoß des politischen und technologischen Beschleunigungsschubs der 1990er: Der langsame Verfallsprozess des Kommunismus spitzte sich in einer nur Monate dauernden Abwicklung dramatisch zu. Schon lange spürbare Tendenzen der Globalisierung schlugen auf einmal voll durch. Gleichzeitig brach das digitale Zeitalter an. Entschleunigung ist ein Wort, das an- und aufhalten will. Es will sagen: Stopp. Das wird mir zu viel! Ich will wieder die Kontrolle erlangen. Ein Wort wie ein Kruzifix, den Dämonen der Zeit entgegengestreckt.

Entschleunigung zielte ursprünglich nicht auf das Individuelle, sondern aufs Ganze. In diesem Sinn taucht es ab 1993 in Publikationen des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie auf. Sie beschreiben Entschleunigung als ein Element maßvollen Wirtschaftens, das nicht blind auf Effizienzsteigerung und Wachstum als Selbstzweck setzt, sondern die ökologischen Grenzen der Konsumgesellschaft ernst nimmt. Auch die Verkehrswissenschaft nahm den Ausdruck auf. Hier stand Entschleunigung zunächst für Sicherheitsgewinne durch Temporeduzierung. Später auch für die ökologischen Vorteile und Gewinne an Lebensqualität, die mit Verkehrsmitteln wie Fahrrad und Fußverkehr verbunden sind.

In der ökologischen Wirtschaftsforschung und der Verkehrswissenschaft richteten sich die Imperative nicht an den einzelnen Bürger, sondern an politische Entscheidungsträger – verbunden mit dem Ruf nach vernünftigen Rahmenbedingungen, die nachhaltiges Wirtschaften und die lebenswerte Gestaltung des öffentlichen Raums ermöglichen sollten.

Erst ab der Jahrtausendwende entdeckten die Werber die Entschleunigung. Jetzt las man das Wort immer öfter neben solchen wie „Wellness“ und „Entspannung“. Aus der kollektiven und öffentlichen Verantwortung, die zunächst mit der Entschleunigung verbunden war, wurde eine private. Bestenfalls zieht sich der privat Entschleunigende aus der Öffentlichkeit zurück. Schlimmstenfalls steht er dem kollektiven Wohl sogar im Weg, indem er versucht, über Konsum zu entschleunigen, oder sich einbildet, mit seiner privaten Ökoroutine schon ausreichend zum Schutz des Planeten beigetragen zu haben.

Dabei ist es heute mehr denn je nötig, den Blick auf das Ganze zu weiten. Die zerstörerische Kraft der globalen Konsumgesellschaft wird von Tag zu Tag deutlicher: Das Plastik hängt in den Korallenriffen und treibt in grotesken Müllkontinenten über die Weltmeere. Die Insekten sterben, die Fische verschwinden, den Meeren geht der Sauerstoff aus, und das Klima wird angeheizt. Zugleich hat der globalisierte Kapitalismus das Potenzial geschaffen, Armut weltweit zu reduzieren.

Der siechende Planet selbst führt uns vor Augen: Das maßvolle, entschleunigte Wirtschaften tut mehr not denn je. Zugleich können viele Menschen in strukturärmeren Weltgegenden von einer Modernisierung ihrer Volkswirtschaften profitieren. Ob und wie sich diese beiden Tendenzen miteinander in Einklang bringen lassen: Das ist die große Herausforderung der Zukunft. Fest steht: Rasante Industrialisierung ohne Nachhaltigkeit, wie sie der Westen bisher praktiziert hat, kann keine Lösung sein.

Reduktion, nicht Verlangsamung

Vielleicht müssen wir uns auf den Bedeutungskern der Entschleunigung besinnen. Denn Entschleunigung ist nicht gleich Langsamkeit. Sie ist ein Gegenbegriff zu Verdichtung, Verstopfung, Vermüllung. Entschleunigung meint den freiwilligen Verzicht, die Beschränkung mit Augenmaß, die sinnvolle Reduktion. Es ist ein Wort mit asketischem Charakter.

Im Bereich der individuellen Lebens­ästhetik ist die Askese längst zum modischen Leitbild geworden: Der Hipster mit Vollbart, abgemagertem Gesicht, Tattoos und drahtig-athletischem Körper ist der Brahmane des 21. Jahrhunderts. Als Gesellschaft sind wir hingegen miese Asketen: Wann hätten wir als Kollektiv zuletzt auf etwas verzichtet? Selbst die Klimaschutzziele versuchen wir nicht durch Reduktion, sondern durch Effizienzsteigerung zu erreichen. Zu mächtig ist das Man­tra des Wachstums, als dass es in irgendeinem Politikfeld auch nur lokal oder im Einzelfall infrage gestellt würde.

In den Medien konzentriert sich die Debatte um Entschleunigung aber fast ausschließlich auf die Frage des Zeitwohlstands – zumeist in Form der Klage: Alles wird schneller, für nichts gibt es mehr Muße und überhaupt: die Handys. Neu ist diese Jeremiade, klammert man die Smartphones einmal aus, allerdings nicht. Sie wird in Abwandlungen seit dem 18. Jahrhundert angestimmt, lange bevor mit der Eisenbahn die erste moderne Beschleunigungstechnologie die Bühne betrat.

Obwohl die Debatte hier wieder ins Individuelle zielt – nämlich auf die Frage, wie jeder Einzelne die Droge Internet in den Griff bekommt – lässt sich am Beispiel der Smartphones eine Dynamik zeigen, die auch für größere wirtschaftliche Zusammenhänge relevant ist: der sogenannte Rebound-Effekt. Gemeint ist: Durch Technologie erzielte Effizienzgewinne in der Produktion führen zu gesteigertem Konsum, der droht, die erreichten Vorteile wieder zunichtezumachen.

Am Beispiel des Zeitbudgets lässt sich das lebensnah nachvollziehen: So führte die Erfindung elektronischer Haushaltsgeräte nicht dazu, dass die Menschen weniger Zeit mit Waschen und Putzen verbrachten. Trotz Waschmaschine, Staubsauger, Spülmaschine und Mikrowelle wandten sie sogar mehr Zeit für den Haushalt auf. Und zwar deshalb, weil sie mehr Kleider und Geschirr kauften, öfter wuschen und saugten und die Ansprüche an Sauberkeit stiegen.

Ein bekanntes Beispiel aus dem Bereich der Mobilität ist das SUV: Die erzielten Fortschritte beim Kraftstoffverbrauch von Motoren führten nicht zu weniger Emissionen im Verkehrsbereich. Stattdessen boten die Autohersteller größere Autos an, welche die Kunden, geblendet von den fossilen Attributen Größe, Stärke und Geschwindigkeit, dann massenhaft kauften.

Für die Smartphones gilt das Gleiche: Die Geschwindigkeit unserer Kommunikation nähert sich der Lichtgeschwindigkeit an. Wir verbringen deshalb nicht weniger Zeit mit Kommunikation. Stattdessen kommunizieren wir viel mehr und mit mehr Menschen. Und dank Musik- und Videostreaming konsumieren wir immer mehr Produkte der Unterhaltungsindustrie, die nun immer und überall verfügbar sind. So führt technologische Beschleunigung zur Verstopfung des Alltags. Aber nicht, weil uns die Technologie dazu zwingt. Sondern weil wir in unserer Kultur einen unstillbaren Hunger nach Mehr eingeübt haben.

Digitalisierung des Alltags

Auch die Digitalisierung des Alltags spaltet unsere Lebenswelt in zwei Geschwindigkeiten: Während unsere Hirne im Netz mit atemberaubendem Tempo unterwegs sind, sind unsere Körper erstarrt vor den Screens, gefesselt wie die Körper in Platons Höhle, die nur Schattenspiele zu sehen bekommen und diese für die wirkliche Welt halten. Das Netz wirkt wie eine Droge, und die Zeichen der Sucht sind allgegenwärtig.

Womöglich ändert sich durch die Digitalisierung unser Verhältnis zur Realität grundlegend. Fest steht: Der digitale Konsum ist nur die jüngste Form unserer Kultur des Mehr. Über die Auswirkungen dieses Konsums auf Individuen ist viel berichtet worden. Wie weit eine als epidemisch empfundene Häufung von Depressionen und Burnouts mit der Digitalisierung der Welt oder anderen gesellschaftlichen Faktoren zusammenhängt, muss sich noch erweisen. So oder so muss jeder Einzelne für sich Routinen finden, die den Wechsel zwischen aufgeregter Partizipation und erholsamer Ruhe erlauben.

Für das große Ganze sind mit Blick auf die Digitalisierung aber andere Aspekte wichtiger, die in der Öffentlichkeit deutlich weniger präsent sind: Die Digitalisierung von Wirtschaft und Verkehr wird von allein nicht zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise führen. Denn auch hier droht der Rebound-Effekt: Effizienzgewinne durch die digitalisierte Koordination von Energie, Verkehr und Indus­trie sind nichtig, wenn nicht zugleich nachgedacht wird darüber, wo man vermeiden und reduzieren kann. Digitalisierung ohne Plan erzeugt nur immer größeren Energiebedarf.Ob das Schlagwort Entschleunigung für eine Politik des Maßes noch geeignet ist, ist angesichts der Kommerzialisierung des Wortes allerdings fraglich.     

Tim Albrecht

Buchtipp: Hartmut Rosa, „Beschleunigung”

In seinem Buch „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne” beschreibt der Soziologe Rosa die historischen und kulturellen Rahmenbedingungen, die der modernen Wachstumsgesellschaft zugrunde liegen. Beschleunigung ist für den Autor ein Grundmerkmal der Moderne. Sie charakterisiert nicht nur die technologische Entwicklung, sondern auch den sozialen Wandel und die individuelle Erfahrung des „Tempos des Lebens”.

Das Buch ist 2005 bei Suhrkamp erschienen und kostet als Taschenbuch 22 Euro.

fairkehr 1/2018