fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

Obere Wilhelmstraße 32 | 53225 Bonn | Telefon (0228) 9 85 85-85 | www.fairkehr-magazin.de

Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2018

Interview mit Stephan Rammler

Entschleunigung wäre sozial

Digitale Technologien werden zu mehr Beschleunigung und mehr Mobilität führen, wenn Politik und Gesellschaft nicht andere Ziele setzen, sagt Zukunftsforscher Stephan Rammler.

Stephan Rammler, Jahrgang 1968, ist Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 2017 erschien sein jüngstes Buch „Volk ohne Wagen“ – ein Plädoyer für den Abschied von der Automobilität, wie wir sie kennen.

fairkehr: Wie verändert Digitalisierung unsere Mobilität, werden wir schneller oder langsamer?
Stephan Rammler: Beschleunigung ist ein ganz wichtiger Mechanismus der kapitalistischen Profitmaximierung. Technisierung ist letztlich immer ein gigantischer Effizienz­treiber gewesen. Dieser Prozess führt zu Technologierenditen, die sofort reinvestiert werden. Wenn private Konsumenten mehr Zeit und mehr Kapital haben, können sie auch mehr konsumieren. Es ist also wahrscheinlich, dass digitale Technologien zu einer weiteren Beschleunigung und Mobilisierung führen.

Digitalisierung ändert also allein nichts.
Genau. Eine andere Technik ist kein Weg zu einer anderen Umgangsweise mit Ressourcen, mit unserem Leben, mit unseren Zeitressourcen. Eigentlich hilft nur die Abschaffung des Kapitalismus. Das wäre eine radikale Antwort.

Also erstmal schlechte Nachrichten. Könnte Digitalisierung auch positiv wirken?
Könnte sie schon. Im Grunde sind Automatisierungstechnologien nichts anderes als Technologien, die menschliche Intelligenz und Arbeitskraft freisetzen. Und frei nach Marx könnten die Maschinen für uns arbeiten und wir im Grunde den Freiraum nutzen, uns für zivilisatorischen Fortschritt, für Kultur, für Kunst, für gutes Leben, für Gemeinschaft einzusetzen. Die neuen Spielräume aus der Digitalisierung nutzen wir eben nicht, um weniger zu tun oder mehr Zeit zu haben, mehr zu schlafen, sondern wir nutzen sie, um die gewonnene Zeit wieder mit anderen Dingen zu füllen.

Mit mehr Konsum, Bewegung, Beschleunigung?
Das ist ein klassischer psychologischer Rebound-Effekt. Die Frage der Entschleunigung wird woanders entschieden, nicht in der Technik. Ich kann mir sehr wohl eine Gesellschaft vorstellen, in der wir mit sehr viel weniger Verkehrsaufwand eine sehr viel höhere Mobilität erreicht. Wissensarbeiter können auf dem Land leben, in einem kleinen Dorf, sie können sich regional ernähren, sie können enge Beziehungen zur Dorfgemeinschaft haben. Das Dorf 4.0 wäre das digital vernetzte, aber gleichzeitig entschleunigte Dorf. Vorher stellt sich aber die Frage: Was ist das Leitbild der Gemeinschaft, in der ich lebe? Insofern ist es letztlich eine gesellschaftliche Entscheidung, wie wir zur Entschleunigung kommen.

Das Lissabon-Szenario vom International Transport Forum ITF kommt zu dem Schluss, dass zehn Prozent der Vehikel von heute ausreichen, um Mobilität zu erhalten – wenn die Vehikel autonom intelligent gesteuert werden. Eine Stadt mit mehr Raum für zwischenmenschliche Begegnung, eine positive Vision für Sie?
Nein, das ist keine entschleunigte Stadtlandschaft. Das Versprechen ist: Das Mobili­tätsniveau bleibt gleich, es wächst womöglich sogar. Der einzelne Verkehrsteilnehmer ist im Lissabon-Szenario nur anders unterwegs, die externen Effekte seiner Verkehrsmobili­tät sind wahrscheinlich geringer. Aber er ist nicht weniger schnell unterwegs. Also insofern reden wir da nicht über Entschleunigung.

Ist der Stress in unseren Städten nicht den unterschiedlichen Geschwindigkeiten geschuldet? Ich meine die sinnlose Beschleunigung zwischen zwei roten Ampeln, dieses kurze Stück Straße, auf dem der Porschefahrer seine Freiheit ausleben kann.
Auf so einer spezifischen Ebene würde eine Anpassung der Geschwindigkeit der Systeme sicherlich zu mehr Ruhe, zu weniger Aggressivität, zu weniger Konflikten führen. Und eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 bis 30 km/h würde mehr Harmonie bedeuten.

Also Entschleunigung gleich sozialere Gesellschaft?

Unbedingt. Das Absurde daran ist ja, psychologisch betrachtet, dass der einzelne schnelle Fahrer subjektiv das Gefühl hat, er käme schneller durch. In Deutschland versucht man immer, seinen persönlichen Vorteil zu optimieren. Keiner glaubt daran, dass  reduzierte individuelle Spitzengeschwindig­keiten alle systemisch besser voranbringen würden.

Denken wir das noch weiter: Wie sieht Ihr Zukunftsszenario für deutsche Städte und Dörfer im Jahr 2040 aus?
Ich bin jetzt seit zwei Jahren mit Vorträgen sehr viel durch Deutschland gereist. Es gibt engagierte Milieus, es gibt tolle Bürgermeister, Verkehrsbürgermeister, Planungsdezernenten. Ohne Frage. Es gibt aber auch nach wie vor Gruppen mit extrem großem Beharrungsvermögen, die alles so lassen wollen, wie es ist. Und die Digitalisierung wirkt im Augenblick eher als Stabilisationsfaktor.

Die Digitalisierung führt zu einem Stillhalten, weil man glaubt, in zehn Jahren löst sich das Ganze allein durch Technik?
Die Eliten glauben in weiten Teilen, die digitale Transformation führe automatisch zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Das ist der größte Unsinn, den man sich denken kann. Genau das Gegenteil wird passieren. Ein mögliches Szenario: Mobilität wird elektrisch, wir werden Radmobilität stärken und im Bereich Güterlogistik einiges an emissionsfreier Mobilität hinkriegen, aber das ist keine wirkliche Wende. Für eine nachhaltige Verkehrswende brauchen wir mutige Politik, die Klimaschutz, Partizipation und Lebensqualität als Ziele formuliert und danach handelt.

Interview: Michael Adler

fairkehr 1/2018