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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2018

Interview mit Jutta Deffner

„Das Tempolimit wäre eine stauvermeidende Maßnahme”

Im fairkehr-Interview spricht Jutta Deffner vom Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Main über die Be- und Entschleunigung unserer Mobilität und unserer Städte.

Dr. Jutta Deffner forscht zu Mobilität und urbanen Räumen am Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt am Main.

fairkehr: Worum geht es, wenn man von Beschleunigung und Entschleunigung im Bereich der Mobilität spricht?
Jutta Deffner: Früher ging es in der Verkehrs­planung darum, dass Entfernungen möglichst schnell überwunden werden können. Daraus entstand der ganze Hochgeschwindigkeitsverkehr. Verkehr wurde rein ökonomisch gedacht. Teilweise herrscht dieses Denken heute noch vor. Eine Verlangsamung des Verkehrs wurde zuerst unter dem Aspekt der Sicherheit diskutiert. Zum Beispiel bei den Debatten um Tempo 30. Heute schiebt sich aber auch die Frage nach der Qualität des Unterwegsseins in den Vordergrund. Wenn ich mich innerorts langsamer fortbewege, habe ich erst die Möglichkeit, mit anderen zu interagieren und meine Umwelt wahrzunehmen.

Heißt das, unsere Städte werden in Zukunft Oasen der Entschleunigung?
Oasen der Entschleunigung wohl nicht. Aber in der Planung und der Politik entwickelt sich langsam das Bewusstsein, dass es in Städten um angemessene stadt- und bewohnerverträgliche Geschwindigkeiten geht. Da tut sich etwas. An vielen Stellen geht es bei der Verlangsamung des Verkehrs darum, dass der Verkehrsfluss bei niedrigeren Geschwindigkeiten erhalten bleibt.

In der Stadt ist man mit dem vermeintlich langsameren Verkehrsmittel Fahrrad oft schneller unterwegs. Ist Beschleunigung und Entschleunigung im Verkehr eigentlich ein Widerspruch?
Nein. Nehmen Sie das Beispiel Tempolimit auf Autobahnen. Wenn ich die Geschwin­digkeit verlangsame, erreiche ich bis zu einem bestimmten Verkehrsaufkommen eine viel größere Kapazität der Straße. Außerdem erhöht sich die Sicherheit, die Wahrscheinlichkeit von Unfällen sinkt. Das Tempoli­mit wäre durchaus eine stauvermeidende Maßnahme.

Nicht alle wollen mit dem Rad fahren. Besteht die Gefahr, dass entschleunigte Städte mit viel Fuß- und Radverkehr einen bestimmten Mobilitätsstil zum allgemeinen Leitbild erheben?
Mobilität muss erstmal für alle Bevölkerungsgruppen möglich sein. Ich kann eine Stadt nicht nur für ein bestimmtes Verkehrsmittel planen. Aber gerade die autogerechte Stadt hat den Verkehr für eine bestimmte Gruppe optimiert. Für die anderen wurde das System immer schlechter. Von daher müssen wir erstmal wieder eine gleichberechtigte Nutzung des öffentlichen Raums ermöglichen. Die Frage ist nur, ob Politiker das kommunizieren können.

Sie haben in der Wirtschaftswoche ihre Vision einer nachhaltigen Stadt wie folgt beschrieben: „Meine Utopie wäre, dass der Fahrradkeller eben kein Keller, sondern wunderbar ebenerdig ist, die Treppe zur S-Bahn wie eine Heublumenwiese duftet und nicht wie ein Urinal stinkt und vor meinem Haus keine Autos parken.“ Fehlt so einer grünen Großstadt nicht das Urbane?
In diese Denkfalle sollte man nicht treten. Es wird oft behauptet: Wenn man den Autoverkehr rausnimmt, stirbt die Urbanität. Aber es gibt auch mediterrane Städte, in denen Autos wegen der engen Straßen nicht fahren können. Wenn man den Autoverkehr aus den Städten wegdenkt, hinterlässt er ja keine Leere. Der Raum wird anders genutzt werden. Das ist die große Herausforderung der Stadtplanung: Sie muss einen Rückgang des Autoverkehrs antizipieren und jetzt Vorschläge entwickeln, wie mit dem frei werdenden Raum umgegangen werden soll. Sonst besteht die Gefahr, diese Chance zu verpassen.

Interview: Tim Albrecht

fairkehr 1/2018