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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 1/2018

Urlaub im Kloster

Rückzug auf Zeit

fairkehr-Redakteurin Uta Linnert  verzichtet fünf Tage auf Smartphone und Internet – eine Reise im Zeichen von „Digital Detox“ nach Disentis im Schweizer Kanton Graubünden.

Gastfreundschaft im Kloster Disentis: Hier kann jeder stilvoll wohnen und Ruhe und Aussicht genießen.

Schon der Swiss Travel Pass für fünf Tage Bahnfahren in der Schweiz, kommt online. Wer noch das briefumschlaggroße Heftchen mit dem Matterhornfoto und Feldern für Unterschrift und Zangenabdruck vor Augen hat, ist nostalgisch. Auch das Land der mechanischen Uhren mit Handaufzug hat den Fahrscheinverkauf digitalisiert. Zum Glück kann man das Ticket ausdrucken und dem Schaffner den QR-Code auf Papier unter sein Lesegerät halten.

Die größte Unruhe befällt mich vor der Reise. Ich kann nicht einfach offline gehen und von der Bildfläche verschwinden. Ich bin digital vernetzt. Im Büro schreibe ich eine Abwesenheitsmail. Die Familie erhält für den Notfall die Telefonnummer des Fotografen am Zielort– falls was mit der Oma ist. Freunden erzähle ich von meinem Digital-Detox-Plan, denn in WhatsApp-Zeiten ist es normal geworden, innerhalb einer überschaubaren Zeit zu antworten – wenn nicht sofort. Danach gilt man als sozial nicht kompatibel oder verschollen.

Ich habe mich für meine digitale Auszeit in einem Kloster einquartiert.  Groß und majestätisch erhebt sich die Benediktinerabtei Disentis über dem Tal der Surselva. Das alles überragende Gebäude mit der Klosterkirche und ihren beiden Kuppeltürmen ist nur einen kurzen Fußweg vom Bahnhof Disentis, dem Haupt­ort der Talschaft im schweizerischen Kanton Graubünden, entfernt. Seit 1 400 Jahren fanden Mönche und Pilger den Weg in dieses Kloster ohne Google Maps. So ist es noch heute.

Wenn Bruder Stefan nicht gerade Orgel spielt, kümmert er sich um die Klostergäste.
Architektonisches Juwel – die Kapelle in Sumvitg, erbaut von Peter Zumthor.

Die Klosterpforte ist offen. Hinter der schweren Holztür führt rechts eine Glas­tür zum Klosterladen. Bruder Urs, der am Empfang zwischen hausgebackener Nusstorte, Bergkräutertees, Büchern und Devotionalien Dienst tut, begrüßt mich herzlich und übergibt mir den Schlüssel zu einem Eckzimmer im dritten Stock des Barockbaus. Ich steige die steinernen Treppen hinauf in einen langen, menschenleeren, mindestens fünf Meter breiten Flur. Mir ist etwas mulmig zumute.

Das Zimmer empfängt mich mit wohltuender Ruhe und Wärme.  Alles ist schlicht und schön: der Boden aus hellen Holzdielen, weiß getüncht die meterdicken Wände, die Vorhänge aus naturfarbenem Leinen, auf den Betten dicke Decken und Kissen in feiner Schweizer Bettwäsche. Auf dem Schreibtisch steht ein Krug mit Gläsern für das gute Wasser der Klosterquelle bereit, darauf strahlt helles Licht einer zeitlos schönen Stehlampe. Perfekte Bedingungen, um sich ohne digitale Ablenkung in ein Buch zu vertiefen oder einfach nur die grandiose Aussicht auf das Tal der Surselva und die Berge des Val Medel zu genießen. Besonders schön für mich als Rheinländerin: Irgendwo dort oben im Tal entspringt der Rhein, um mehr als 700 Kilometer weiter mit einigen Neben- und vielen Zuflüssen vereint, als mächtiger Strom und stark befahrene Wasserstraße durch meine Heimatstadt Bonn zu fließen.

 „Alle Zimmer sind mit Dusche und WC ausgestattet, aber bewusst ohne Fernsehen, Radio oder Minibar“, sagt Bruder Stefan, der für die Gästebetreuung zuständig ist. „Wir wollen Frauen und Männern die Möglichkeit bieten, von der Reizüberflutung Abstand zu nehmen, Ruhe zu finden und Entschleunigung zu erleben“, sagt der 57-Jährige, der vor 28 Jahren dem Kloster beigetreten ist und seitdem den schwarzen Habit der Benediktiner trägt. Männer können zusätzlich am „Kloster auf Zeit“ teilnehmen und mit den Mönchen in der Klausur essen, arbeiten und beten. „Es gibt immer wieder Einzelne, die die Stille nicht aushalten und aufgeben“, erzählt Bruder Stefan, der auch die Orgel in der Klosterkirche spielt. Fünfmal täglich treffen sich die Mönche dort zum Singen und Beten. Dabei können auch Frauen und Besucher der Gästezimmer teilnehmen – allerdings ist niemand verpflichtet.

Das erste öffentliche Gebet am Morgen schaffe ich ohne Wecker. Mehrmals haben schon die Glocken geläutet und um 7:30 Uhr sitze ich in der Kirchenbank. Die Mönche feiern eine heilige Messe und wecken die Lebensgeister mit ihren einstimmigen gregorianischen Chorälen. Ihre Gesänge berühren die Seele und klingen den ganzen Tag nach.

18 ehemalige Mönchszellen hat das Kloster im letzten Jahr zu Zimmern für Besucher und Seminargäste umgebaut. „Zu viele Räume standen leer“, sagt Silvio Bernasconi, Leiter des Klausur- und Kulturzentrums, „und wir brauchen zusätzliche Einnahmen.“ Schließlich sei das Kloster neben Weihrauch und Gebet auch ein Wirtschaftsbetrieb. Nur noch 22 Mönche leben aktuell in dem riesigen Klosterbau. Die angeschlossene Klosterschule mit Internat plagen ebenfalls Nachwuchssorgen. „Im Tal leben zu wenig Kinder, junge Familien ziehen in die Stadt, die ersten Grundschulen haben schon geschlossen“, erklärt Bernasconi. Die Gästezimmer sind Teil eines Masterplans. Bernasconi ist Mitglied im örtlichen Tourismusverein, der neben anderen Organisationen über die Zimmer im Kloster informiert. Bei den kommerziellen Booking-Portalen ist das Kloster nicht gelistet.

Wie eh und je: Walter Tuor schnitzt Anzünder und haut Brennholz für den Ofen im Haus.

Die Abtei mit ihren beiden Kirchen und dem sakralen Museum lockt Touristen ins Tal. Auch die Kapelle des heiligen Benedikt, wenige Kilometer entfernt, zieht architekturbegeisterte Menschen aus der ganzen Welt an. Informationen hierzu liegen im Kloster aus: Die Caplutta Sogn Benedetg – wie sie auf romanisch heißt, der Sprache des Tals – steht oberhalb des Dorfes Sumvitg. Als 1984 eine Lawine die alte Kapelle zerstörte,  baute Peter Zumthor, der weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannte Architekt, die sehenswerte neue Caplut­ta – aus Holz, das mit Licht und Wetter verwittert, ganz wie die alten Bauernhäuser.

Statt aufs Display zu schauen, frage ich in Sumvitg einen alten Mann, der vor seiner Scheune Brennholz schichtet, nach dem Weg. Walter Tuor gibt Auskunft, und ich erfahre nebenbei, dass er hier bis 1998 die Poststelle geleitet hat. Seit seiner Pensionierung ist diese geschlossen und teilt das Schicksal der Käserei, der Backstube und der Wäscherei in dem Weiler mit den engen Gassen. „Es lohnt sich alles nicht mehr für so wenige Leute“, sagt Walter Tuor, „wie überall sind auch hier unsere Kinder weggezogen.“ Früher lebten die Bergbewohner ein bescheidenes Leben. Einige waren berufstätig, die meisten ernährte eine kleine Landwirschaft: der Garten, ein paar Kühe und Ziegen. Heute können Besucher die liebevoll hergerichteten Gemeinschaftseinrichtungen besuchen und bestaunen. „Lebendig werden sie hier wohl nicht mehr“, bedauert Walter Tuor.

Wer nicht komplett verplant ist, kann Glück haben und ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Auf einer Lesung im Hotel Medelina in Curaglia, einem ­1330 Meter hoch gelegenen Berg­dorf auf der Postautolinie zum Lukmanierpass, erlebe ich, dass es zur Landflucht auch Gegenbewegungen gibt. Hier haben sich einige junge Leute neue Existenzen aufgebaut.

Drei von ihnen haben das Hotel Medelina in einem ehemaligen Altenheim eröffnet: Livia Werner kam aus Zürich in die abgeschiedene Bergwelt, Rico Tuor ist nach dem Studium zurückgekehrt und Julia Lüscher stammt aus dem Val Medel. „Sie spricht als Muttersprache romanisch, das ist von Vorteil“, sagt Rico, denn in der Surselva lebt die Sprache und wird gefördert: So muss beispielsweise der Schriftverkehr mit der Verwaltung auf romanisch abgefasst sein.

Ein wohltuender Gegensatz zum Lesen am Bildschirm: Im Hotel gibt es eine Bibliothek. Neben Romanen und Wanderkarten entdecke ich einen Bildband über das Kloster Disentis und seine  Bewohner. Den nehme ich mir später vor, denn jetzt wird im Medelina vorgelesen: Die Autorin Daniela Schwegler stellt ihr Buch „Landluft. Bergbäuerinnen im Porträt“ vor. Eine ihrer Protagonistinnen, Eveline Hauser,  ist ebenfalls zu Gast, denn sie wohnt in Curaglia. Zusammen mit Dominik Waldmeier hat sich die Schweizerin aus dem Kanton Luzern hier niedergelassen. Die beiden haben einen Hof übernommen, halten Ziegen, ein Dutzend Mutterkühe, haben Bienen, Herdenschutzhunde und Hühner.

Ein Herz und eine Seele: Geissherz-Gründerin Eveline Hauser mit dem jüngsten Nachwuchs einer ihrer Ziegen.

Livia, Rico und Julia, alle zwischen dreißig und vierzig Jahren alt, haben zuammen mit insgesamt 40 Aktionären viel privates und öffentliches Geld eingesammelt und das leer stehende Haus zu einem behaglichen Ort umgebaut. Auch hier: viel helles Holz, zeitlos schlicht von lokalen Handwerkern verbaut. Mit vorzüglichem regionalen Essen, interessanten kulturellen Veranstaltungen, Musik und Lesungen bringen sie Leben in ihr schönes Haus und man kann ihnen nur wünschen, dass das Projekt gelingt, und viele Gäste das Hotel entdecken.

Eveline hat mich eingeladen, mir den Hof anzuschauen. Wir sind gegen 12 Uhr am Stall verabredet. Von Weitem sehe ich sie mit zwei Hütehunden zu Fuß den Berg hinaufkommen. „Wenn möglich, laufe  ich immer alles“, sagt die 35-jährige Bäuerin in Gummistiefeln und dicken Wolljacken, „schon wegen der Hunde.“ „Geissherz“ hat Eveline ihren Betrieb genannt – und der Name ist Programm.

„Ziegen gehören seit jeher hier in die Berge und sind ideale Tiere zur Kulturlandschaftspflege“, sagt Eveline. Berg­ziegen fressen nicht nur Gras, sondern knabbern auch Gebüsch und kleine Sträucher ab und halten so die Flächen offen. Ende Januar, wenn draußen hoher Schnee liegt, sind alle 50 Muttertiere im Stall. „Jetzt ist die Zeit, in der die Geißen ihre Gitzi bekommen“, sagt Eveline. Überall im Stall springen die schwarz-weiß und buntgescheckten kleinen Ziegen herum. Jedes Zicklein – Gitzi heißen sie auf Schweizerdeutsch – bleibt zum Trinken bei der Mutter, und wenn eines der Jungen im Durcheinander nicht die richtige Milchquelle findet, hilft Eveline. „Ich trage sie viel herum“, sagt die junge Bäuerin, lacht und schnappt sich eine der Baby-Ziegen, die mit staksigen Beinen in einen Fress­trog geklettert war.

Wer sieht, wie Eveline ihre Gitzis herzt, kann sich schwer vorstellen, dass sie die niedlichen Ziegen bald zum
Schlachten gibt. „An Ostern sind sie acht bis zwölf Wochen alt, dann kommt der große Teil der Gitzis weg“, sagt die Bäuerin. Das Fleisch der „Ostergitzis“ ist vor allem im nahen Tessin eine Spezialität – und ernährt den Hof.

Nach Ostern werden die Mutterziegen gemolken. Die Milch geht in die kleine Käserei im Dorf, die kürzlich eine aus Deutschland zugezogene Käserin übernommen hat. „Im Sommer ziehen die Ziegen auf die Alp, „dann macht eine Sennerin den Käse dort oben“, sagt Eveline.

Erst im Sommer bieten die Ziegenbauern wieder das Trekking über die Almen an.

Neben der Tierhaltung haben sich Eveline und Dominik ein touristisches Standbein zugelegt. Sie bieten Trekking mit Packziegen an. „Es geht über Stock und Stein, über Bäche und Almen im Tempo der Ziegen“, sagt Eveline. Das besondere Erlebnis sei, eng mit den Tieren zu leben, ein Mitglied der Herde zu werden: „Wer erlebt schon mal eine Geiß über Nacht oder wie sie morgens aufwacht?“

Am letzten Abend bin ich mit dem Fotografen Stefan Schwenke zum „Nachtessen“, wie die Schweizer sagen, verabredet. Stefan ist aus Westfalen zugezogen, heimisch geworden und engagiert sich mit seinem Verein Viva Disentis für nachhaltige Entwicklungen im Ort und in der Region. Treffpunkt und Zeit haben wir noch nicht vereinbart. Jetzt fehlt das Handy! Auf meinem Zimmer gibt es kein Telefon und die Klosterpforte, wo ich telefonieren könnte, ist nach 17:30 Uhr nicht mehr besetzt.

Mit Glocke und Packtasche:Im Sommer können Touristen mit den Ziegen auf Wanderschaft gehen. Den Winter verbringen die Tiere im Stall – es sei denn, sie haben einen Fototermin.

Also stapfe ich auf gut Glück los. Disentis versinkt im Neuschnee. Ein paar Umwege Richtung Stefans Wohnung bleiben mir trotz großem Hunger nicht erspart, denn meine Orientierung ist ohne digitalen Wegweiser äußerst schwach. Auch die Restaurants checken wir nicht wie sonst vorher und stehen vor verschlossenen Türen. Erst beim dritten Laden haben wir Glück: Dienstags machen hier scheinbar alle Ruhetag. Beim Schlafengehen im Kloster finde ich es schade, dass ich die weiten Fußwege der letzten Tage nicht aufgezeichnet habe, weil das Handy wie tot im Kloster lag. Hätte ich es dabeigehabt, hätte es meine Schritte auch offline aufgezeichnet. So werden die Tage später leider völlig inaktiv aussehen.

Beim Klosterfrühstück vor der Heimfahrt frage ich mich, was in der Welt los war. Schließlich war ich einige Tage vom Nachrichtenstrom abgekoppelt. Die aktuelle deutschsprachige Tageszeitung hat drei Hauptmeldungen auf Seite eins: Es gibt Gerangel um die Vorstands posten im Tourismusverband; die Schweizer sorgen sich, weil Trump als Redner in Davos auftritt; und der Bündner Jägerverein verkündet stolz, im Jahr 2017 über 1 000 Hirschtiere „zu viel“ erlegt und damit den Plan, 5 370 Hirsche totzuschießen, übererfüllt hat.

Nichts Weltbewegendes. Mehrere Tage ohne das Suchtmittel Handy haben mir die Angst genommen, etwas
zu verpassen. Das Erstaunlichste dieser digitalen Entgiftungsreise: Ohne Handy habe ich vor allem Zeit gewonnen. Sehr viel Zeit. Niemand zerrte an mir, wollte meine Aufmerksamkeit. Wer sich ohne ständige Ablenkung auf das Wesentliche konzentrieren kann, hat Zeit für Menschen, Geschichten, Zeit zum Schauen, Entdecken und Staunen.

Uta Linnert

Reiseinformationen

✚ Anreise

Mit der Bahn über Zürich und Chur nach Disentis. Tickets am DB-Schalter oder auf www.bahn.de

Wer flexibel ist, kann ab 29,90 Euro einen Sparpreis Schweiz bis zum Zielort ergattern

Für weitere Fahrten innhalb der Schweiz lohnt sich der Swiss Travel Pass. Er bietet Reisefreiheit für die ganze Schweiz: 26 000 Kilometer Bahnen, Schiffslinien und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in über 90 Schweizer Städten. Drei Tage kosten 225 CHF.

✚ Übernachten

Kloster Disentis, 80 CHF/pro Person im DZ, für Gruppen 55 CHF/pro Person: www.kloster-disentis.ch

Hotel Medelina Preis: 85 CHF/pro Person im DZ, 60 CHF/pro Person im Mehrbettzimmer: www.medelina.ch

✚ Trekking mit Packziegen

Mit und ohne Übernachtung. Geissherz, Eveline Hauser: www.geissherz.ch

Disentis im Winter

❄ Skifahren, Langlaufen, Schneeschuhwandern – und natürlich Bahnfahren durch Berglandschaften und über tief verschneite Alpenpässe. Bis Disentis verkehrt die Rhätische Bahn, von dort fährt die Matterhorn-Gotthard-Bahn über den Oberalppass, der im Winter für Autos gesperrt ist. Ein Teil der Strecke geht durchs Skigebiet und ist im Skipass enthalten. Wer mag, kann weiterfahren bis hinunter nach Andermatt oder auf der Strecke des Glacier Express bis Zermatt und dabei mehr als 3 000 Höhenmeter überwinden.
www.disentis-sedrun.ch

Graubünden Ferien: www.graubuenden.ch
Schweiz Tourismus:  MySwitzerland.com

fairkehr 1/2018