Titel 6/2017
Verkehr verlagern: auf Füße, Fahrrad, Bus und Bahn
Verkehrswende bedeutet mehr als neue Technik und saubere Autos. Wir müssen wieder mehr gehen, Rad fahren und den ÖPNV nehmen.
Frau Gül genießt jeden Morgen die Verkehrswende. Die zwei Kilometer zur Arbeit geht sie zu Fuß, unterwegs grüßt sie Bekannte, Herrn Neumann auf dem Fahrrad wirft sie vielsagende Blicke zu. Dass sie einen Arbeitsplatz in der Nähe gefunden hat, ist kein Zufall, sondern Ergebnis der Bemühungen der Stadtverwaltung. Diese hat vor Jahren begonnen, die Verkehrswende einzuleiten, indem sie Wohnen, Arbeiten, Erholen und Einkaufen in fußläufiger Entfernung zueinander möglich macht.
Auch das Ehepaar Müller hat schon lange die Verkehrswende eingeleitet. Das Haus im Speckgürtel haben Herr und Herr Müller behalten, aber das Auto gegen zwei Pedelecs eingetauscht. Anfänglich waren die 20 Kilometer in die Innenstadt etwas beschwerlich, doch jetzt können die beiden einen neuen kreuzungsfreien Schnellradweg nutzen. Auch ihre Arbeitgeberin hat die Verkehrswende eingeleitet – es stehen nun Diensträder, sichere Radabstellanlagen und Duschen zur Verfügung.
Das sind die Geschichten, die die Verkehrswende erzählt. Es sind keine Geschichten von neuen Antrieben oder anderen technischen Lösungen. Vielmehr ist die Verkehrswende die Geschichte der politischen und persönlichen Bereitschaft umzudenken, die Geschichte einer neuen Mobilitätskultur. In vielen politischen Debatten zur Verkehrswende wird häufig nur über den technischen Teil gesprochen: den Antrieb und die Kraftstoffeffizienz. Diese Antriebswende ist wichtig, um Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Das große Einsparen kommt aber nicht dadurch zustande, dass wir den Motor austauschen, sondern über die Formel „Vermeiden, verlagern und effizienter machen“. Die Frage der Entstehung von Verkehr, also warum Menschen von A nach B fahren, muss deshalb immer zuerst gestellt werden. Menschen sind selten zum Selbstzweck mobil, sondern um Bedürfnisse zu befriedigen: Sie wollen Freunde treffen, einkaufen oder arbeiten gehen. Stadt-, Verkehrs- und Regionalplaner sollten das Ideal einer Stadt der kurzen Wege verfolgen. Dort können die Bewohnerinnen und Bewohner viele dieser Bedürfnisse im direkten Lebensumfeld erfüllen – zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Auf kreuzungsfreien Radschnellwegen kommen Pendlerinnen und Pendler aus dem Umland in die Innenstädte. Das vermeidet die allmorgendlichen Staus, setzt auf überlasteten Zugstrecken Kapazitäten frei und entlastet die Zentren vom Autoverkehr.
Verkehr vermeiden bedeutet auch, Autos besser auszulasten, indem Fahrten geteilt werden. Aufs Auto zu verzichten und stattdessen in Bus, Bahn oder aufs Fahrrad zu steigen und zu Fuß zu gehen, bringt weitere positive Umwelteffekte mit sich. Für alle Strecken, die dann noch mit dem Auto, Motorrad oder Motorroller zurückgelegt werden müssen, sollen effiziente und nachhaltige Kraftstoffe genutzt werden. Wenn also die Verkehrsleistung generell reduziert ist, erzielt der Einsatz neuer Antriebe die beabsichtigte Wirkung: eine ökologisch und sozialverträgliche Mobilität für alle.
Elektromobilität ist zwar ein Teil der Lösung, wir brauchen jedoch mehr als das. E-Autos fahren lokal emissionsfrei, in Deutschland tanken sie aber aktuell einen Strommix, der 65 Prozent Strom aus fossilen Energien enthält, davon 40 Prozent Kohlestrom. Hier zeigt sich, wie eng Energie- und Verkehrswende zusammenhängen. Um Batterie, Motor und Fahrzeug herzustellen, werden Lithium, Kobalt, Seltene Erden, Aluminium und Kunststoffe benötigt. Der Abbau zerstört die Umwelt, die Arbeitsbedingungen in den Minen sind katastrophal. Diese Probleme müssen genauso gelöst werden wie die Verkehrs-
probleme. Zwar sind eine Nachnutzung der Batterien als Stromspeicher und ein Recycling theoretisch möglich und aus ökologischer Sicht vielversprechend. Die Kapazitäten und Strukturen dafür sind aber bisher nicht aufgebaut. In den Städten ist das E-Auto außerdem keine Antwort auf das zunehmende Platzproblem. Ob elektrisch betrieben oder fossil – ein Auto bleibt ein Auto, mit gleichem Flächenverbrauch im öffentlichen Raum.
Multimodal unterwegs
Viele Menschen sind bereits multimodal unterwegs: Die Verbindung von ÖPNV, dem eigenen Rad und Sharing-Angeboten erlaubt es ihnen, komfortabel ohne eigenes Auto mobil zu sein und immer das Verkehrsmittel zu nutzen, was für sie gerade am besten ist.
Die Verkehrswende gelingt nur, wenn sie von vielen Seiten gleichzeitig gestartet wird. So hat der lokale Verkehrsbetrieb die Verkehrswende eingeleitet: Fördergelder halfen, Busflotten zu elektrifizieren. In den Städten und auf dem Land können per Chipkarte, App oder Anruf Carsharing-Autos, Leihräder oder Taxis gebucht werden.
Auch das Bundesverkehrsministerium hat die Verkehrswende eingeleitet. Gelder, mit denen ehemals Straßen gebaut oder Dienstwagen subventioniert wurden, finanzieren jetzt den raschen Ausbau von ÖPNV, Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur.
Wenn Frau Gül und Herr Neumann nun zusammen Kaffee trinken, radeln und spazieren Menschen jeden Alters vorbei. Und hin und wieder parkt ein öffentlich genutztes Carsharing-Elektroauto.
Katja Täubert
VCD-Projektmitarbeiterin
„Multimodal unterwegs”