fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

Obere Wilhelmstraße 32 | 53225 Bonn | Telefon (0228) 9 85 85-85 | www.fairkehr-magazin.de

Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 6/2017

Ein Mobilitätsgesetz für die Hauptstadt

In Berlin soll der Anteil des Radverkehrs massiv steigen. Außerdem gilt „Vision Zero” – möglichst keine Verkehrstoten mehr. 

Gruppenfoto der Aktivisten der Berliner Initiative Volksentscheid Fahrrad, die als Weihnachtsmänner verkleidet mit Bannern posieren.
Mit bunten Aktionen, großem Engagement und sehr vielen Unterstützern in der Hauptstadt hat die Initiative Volksentscheid Fahrrad in Berlin ein bisher einzigartiges Mobilitätsgesetz auf den Weg gebracht.

Berlin bekommt als erstes Land in Deutschland ein Mobilitätsgesetz. Das zielt darauf ab, den Anteil des Straßenraums für Busse und Bahnen, Radelnde und Gehende auszuweiten. Pendler sollen künftig auf Schnelltrassen gefahrlos ins Zentrum pedalieren können; an Hauptstraßen sind sichere, vom Autoverkehr abgetrennte Wege vorgesehen, auf denen Sportliche die gemütlich fahrenden Zeitgenossen gefahrlos überholen. Seit August liegt ein entsprechender Referentenentwurf von Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für die Grünen) vor. Heiner von Marschall, beim VCD Nordost für Rad- und Fußverkehr zuständiges Vorstandsmitglied, ist voll des Lobes: „Das Gesetz ebnet den Weg für die von uns seit langem geforderte ökologische Verkehrswende.” Allerdings hätte der VCD den Text gern konkreter gehabt, was Beteiligungsmöglichkeiten, Planungskriterien und Mindeststandards im ÖPNV angeht.

Angefangen hatte alles vor zwei Jahren. Der passionierte Radler Heinrich Strößenreuther und ein paar andere Aktivisten hatten sich ein Wochenende lang in Klausur zurückgezogen. Auf Klein-Klein und Bescheidenheit hatten sie keine Lust – sie diskutierten, wie Berlin Europas Fahrradhauptstadt werden könnte. „Nur ein Gesetz zwingt Politiker, Dinge zu tun, die sie nicht von alleine tun würden”, so Strößenreuther. Ähnlich wie einst die geistigen Väter des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in Aachen nahmen auch die Berliner Radfreunde keine Rücksicht auf Machbarkeit und Lobbyinteressen, sondern überlegten, wie ein gutes Gesetz in ihren Augen aussehen müsste. So erarbeitete die Gruppe Eckpunkte, die einer Revolution gleichkamen: 350 Kilometer sichere Fahrradstraßen auch für Kinder, zwei Meter breite Radverkehrsanlagen an jeder Hauptstraße, transparente und effektive Mängelbeseitigung, grüne Welle für nicht motorisierte Zweiräder und 200 000 zusätzliche Abstellplätze an Bahnhöfen und in Wohngebieten. Um das Ganze in eine rechtlich korrekte Form zu bringen, luden die Initiatoren zehn Juristen und einige Verkehrsexperten zu einem „Gesetzes-Hackathon“ ein. Das Ergebnis stellten sie anschließend in sozialen Netzwerken zur Diskussion, trafen sich aber auch zu diskreten Hintergrundgesprächen mit Verwaltungsfachleuten und Abgeordneten. Im April 2016 übergab die Initiative das Werk dann dem Senat.

Modellcharakter für Deutschland

Die für einen Volksentscheid notwendige erste Hürde nahm die Gruppe spielend: Binnen weniger als vier Wochen kamen 90 000 Unterschriften zusammen; 20 000 hätten gereicht. Verkehrssicherheit wurde in Berlin nun zu einem zentralen Thema – auch im Wahlkampf. Allein im ersten Halbjahr 2016 waren auf Berlins Straßen 26 Menschen gestorben, Immer wieder kommen Radfahrer vor allem an Kreuzungen unter die Räder von Autos und Lastwagen. Die Initiative Volksentscheid Fahrrad veranstaltete spektakuläre Aktionen: Hunderte ließen sich auf einer zentralen Kreuzberger Straße fallen und blockierten mit diesem „Die-in“ über eine Stunde lang den Verkehr. Vor dem Kriminalgericht Moabit fand eine Mahnwache mit weißem Geisterrad und Blumen statt, nachdem ein Gericht entschieden hatte, dass ein Lkw-Fahrer seinen Führerschein behalten durfte, obwohl er bei Rot über die Ampel gefahren und einen Mann getötet hatte.

Die neue rot-rot-grüne Landesregierung verabredete im Koalitionsvertrag Ende 2016 eine Mobilitätswende und kündigte einen massiven Ausbau der Fahrradinfrastruktur an. Im Februar 2017 begann Verkehrssenatorin Günther mit Verbänden und der Initiative Volksentscheid Fahrrad zu verhandeln und nahm auch gleich Behörden- und Bezirksvertreter mit ins Boot. Leitlinie aller Planungen soll die „Vision Zero“ sein – null Tote im Straßenverkehr. Günther veröffentlichte ein Gutachten, das die Verwaltung noch unter ihrem Vorgänger in Auftrag gegeben und monatelang geheim gehalten hatte. Darin wurde der Gesetzesentwurf der Initiative als unvereinbar mit der Straßenverkehrsordnung bewertet. In einem gemeinsamen Prozess suchte die Gruppe Wege, diese Fallstricke zu umgehen. „Das Berliner Mobilitätsgesetz hat damit Modellcharakter für ganz Deutschland. Es reizt den dringend reformbedürftigen bundesrechtlichen Rahmen maximal aus“, sagt Wasilis von Rauch, VCD-Bundesvorsitzender.

Günther betonte immer wieder, dass das Gesetz auf keinen Fall gegen das Auto gerichtet sei. „Je mehr Menschen auf Bus, Bahn oder Fahrrad umsteigen können und wollen, desto schneller kommen auch die voran, die auf das Auto angewiesen bleiben“, argumentierte die Parteilose. Das überzeugt zwar keineswegs alle: Der Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt beschwert sich beispielsweise über die „Verachtung für Autofahrer“, die aus dem Vorhaben spräche. Zugleich aber gibt es in Berlin auch einen starken Rückhalt für die Neuausrichtung der Verkehrspolitik: Innerhalb des S-Bahn-Rings legen die Menschen gerade einmal 17 Prozent der Wege mit dem Auto zurück, in vielen Kiezen kommt ein Auto auf vier bis fünf Einwohner – ein extrem niedriger Wert in Deutschland.

Anfang August veröffentlichte die Senatorin ihren Referentenentwurf. Er enthält einen Zielkatalog, den Juristen allerdings an vielen Stellen für zu unverbindlich halten. Die Aufenthaltsqualität auf Plätzen soll verbessert, der fließende und ruhende Verkehr „möglichst“ wenig Platz in Anspruch nehmen und spätestens 2050 keine klimaschädlichen Abgase mehr in die Luft blasen. Die zweite Hälfte enthält Regelungen zu ÖPNV und Radverkehr. Im Radteil stehen Jahresziele zum Umbau gefährlicher Stellen und 100 Kilometer Schnellwege. Ebenso sind 100 000 Abstellplätze, grüne Welle für Radfahrerinnen und Radfahrer sowie sichere Wege an Hauptstraßen festgeschrieben. Der Anteil des Radverkehrs soll im Jahr 2030 mindestens 30 Prozent erreichen. Deutlich weniger klar sind die Teile zum öffentlichen Nahverkehr. So verheißt der Paragraf über Trams und andere Bahnen zwar in der Überschrift deren Ausbau – im folgenden Text tauche aber nichts Konkretes auf, moniert VCD-Mann Heiner von Marschall.

Radverkehrsplan soll folgen

„Eigene Abschnitte zum Fußverkehr und zu intelligenter Mobilität wie zum Beispiel Carsharing, Ridesharing und Digitalisierung werden im nächsten Jahr folgen”, erläutert die stellvertretende Sprecherin der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Dorothee Winden. Angekündigt ist auch ein Radverkehrsplan mit konkreten Ausbauzielen. Anders als das Mobilitätsgesetz kann er einfach von der zuständigen Senatsverwaltung erlassen werden. Drei für Radler besonders gefährliche Kreuzungen wurden bereits in den vergangenen Monaten umgebaut, erste Machbarkeitsstudien für Radschnellwege hat der Senat in Auftrag gegeben. Rund 50 Millionen Euro pro Jahr stehen jetzt für den Ausbau der Berliner Radinfrastruktur zur Verfügung. In jedem Bezirk sollen sich zwei zusätzliche Personen damit beschäftigen. Für die Umsetzung der geplanten Maßnahmen wurde die Infra-Velo GmbH gegründet. In acht bis zehn Jahren soll die neue Radinfrastruktur fertig sein.

Gegenwärtig befindet sich das Mobilitätsgesetz in der Ressortabstimmung im Senat, anschließend muss noch das Abgeordnetenhaus zustimmen. Dazu VCD-Bundesvorsitzender Wasilis von Rauch: „Das Gesetz sollte diese letzten Stationen nun rasch und ohne Abschwächungen durchlaufen – das Mobilitätsgesetz ist ein zentrales Wahlversprechen der rot-rot-grünen Koalition.”

Annette Jensen

fairkehr 5/2023