fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2017

Ohne fremde Hilfe mobil sein

Zusammen mit Freunden hat Raúl Krauthausen die „Sozialhelden“ ins Leben gerufen. Das erfolgreichste Projekt des Vereins ist die „wheelmap“, eine interaktive Online-Karte, die rollstuhlgerechte Orte auf der ganzen Welt zeigt.

Ein kleinwüchsiger Mann in einem elektrischen Rollstuhl wartet lächelnd auf den Aufzug an einer U-Bahn-Haltestelle.
Fotos (2): Andi Weiland, Sozialhelden e.V.Raúl Krauthausen ist in Berlin mit dem
öffentlichen Verkehr unterwegs. Dafür müssen die Aufzüge funktionieren, sonst geht es nicht.

Was ist das größte Mobilitätshindernis, das Ihnen täglich begegnet?

Das größte Hindernis sind nach wie vor Treppen und Stufen. Oder im öffentlichen Verkehr, wenn dort Aufzüge fehlen oder die Aufzüge kaputt sind.

Passiert Ihnen das noch oft?

Kaputte Aufzüge gibt es leider ständig. Auch noch viele Orte, wo erst gar kein Aufzug existiert. Andererseits kennen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, zu denen ja auch Familien mit Kinderwagen gehören können, ihre Routen in der Stadt. Sie fahren nicht plötzlich zu einer Station, in der es gar keinen Aufzug gibt. Man informiert sich vorher. Das geht in Berlin inzwischen ganz gut.

Wo informieren Sie sich?

Wir haben die Internetplattform brokenlifts.org aufgebaut. Dort kann man in Echtzeit herausfinden, welche Aufzüge im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg funktionieren und welche momentan außer Betrieb sind.

Gibt es das auch für andere Städte?

Zurzeit nur für Berlin. Wir arbeiten an der Ausweitung auf andere Städte, brauchen dazu aber die Auskünfte und Daten der ÖV-Betriebe.

Sie sind als Aktivist für Inklusion sehr bekannt. Auf welches Projekt sind Sie besonders stolz?

Die wheelmap ist sicher eines unserer erfolgreichsten Projekte. Die Karte thematisiert Barrierefreiheit auf eine sehr einfache, undogmatische Weise. Die Aufforderung ist einfach: Markiere Orte in deiner Nachbarschaft und hilf anderen, sich zu orientieren. Gemeinsam bilden alle User eine große Community.

Wer kann Einträge machen?

Jeder. Die wheelmap ist kein Produkt, sondern eine Kampagne. Wir wollen große Datenanbieter wie Apple oder Google motivieren, auf ihren Karten ebenfalls Daten zur Barrierefreiheit zu zeigen. Die wheelmap will keine Konkurrenz zu diesen Karten aufbauen. Wir haben einfach mal angefangen, um zu zeigen, wie es sein sollte. Wir arbeiten an einer weltweiten Datencloud, damit die großen Anbieter diese Informationen auf ihre Seiten mit aufnehmen können.

Sie fahren viel Bahn. Wie zufrieden sind Sie mit dem Service der DB? 

Ich teile die Meinung vieler Menschen mit Behinderung, die das Serviceangebot der Bahn schwierig finden. Dass man seine Reise 48 oder 24 Stunden vorher anmelden muss, dass es zu wenig Rollstuhlplätze in den Zügen gibt. Ich persönlich habe aber bisher relativ wenig Probleme mit der Bahn gehabt. Allerdings fahre ich nur im Fernverkehr. Im Regionalverkehr gibt es einfach zu viele Risikofaktoren. Ein nicht funktionierender Aufzug in einem Regionalbahnhof ist die Hölle. Oder wenn dich das Bahnpersonal mit der Ausstiegsrampe nicht sieht und du weiterfahren musst, und der Zug zurück auf dieser Strecke nur alle zwei Stunden fährt. Ist mir schon passiert. Das tue ich mir nicht mehr an.

Wie erleben Sie den Fortschritt beim Umbau der Bahnhöfe und Haltestellen?

Die DB hat angekündigt, alle Bahnhöfe mit 1000 Fahrgästen am Tag barriere­frei umzubauen. Damit bleibt es für Menschen, die im ländlichen Raum leben, trotzdem schwierig. Sie sitzen im wahr­s­ten Sinne des Wortes gefangen in ihrem Ort. Ansonsten freue ich mich über jede Stadt, die neue öffentliche Verkehrsmittel anschaffen muss, weil diese dann barrierefrei sein müssen. Was ich sehr mag, ist der Pragmatismus hier in Berlin, was die Mitnahme von Menschen im Rollstuhl betrifft. Wo früher die automatischen Hublifte an den Bussen ständig kaputt waren, hantiert man heute wieder mit einfachen Klapprampen. Die Busfahrer steigen freiwillig aus und helfen beim Einsteigen. Man muss sie nicht mehr auffordern. Das ist inzwischen wirklich Normalität geworden.

Wie kommen Sie auf Reisen vom Bahnhof weiter zum Ziel?

Ich werde von Fahrdiensten abgeholt. Anders geht es nicht.

Können Sie kein Taxi anrufen? 

Das ist immer noch fast unmöglich. Sie können anmelden, dass Sie einen Hund mitnehmen möchten, aber nicht, dass Sie im Rollstuhl sitzen. Berlin hat jetzt angeblich acht Taxen, die Rollstuhlfahrer über die Taxizentrale buchen können. Nur acht Fahrzeuge. Ich habe es noch nicht ausprobiert.

Welche Wünsche haben Sie für eine selbstbestimmte, mobile Zukunft? 

Einen barrierefreien öffentlichen Verkehr hätten wir, wenn die Stufen nicht höher sind als drei bis fünf Zentimeter,  sodass jeder diese Stufen ohne fremde Hilfe überwinden kann. Oder es einen funktionierenden Aufzug gibt. Der Umstand, dass ein anderer Mensch oder der Busfahrer hilft, muss der Kompromiss sein. In Berlin gibt es jetzt eine neue U-Bahn und eine neue Tram, da komme ich selbstständig rein und raus. Das ist ein toller, neu gewonnener Freiheitsgrad. Ich kann einsteigen, ohne jemanden fragen zu müssen, ohne das Gefühl zu haben, den Verkehr aufzuhalten oder  jemandem zur Last zu fallen. Das ist sehr schön.

Interview: Uta Linnert

 

Raúl Aguayo-Krauthausen streckt mit offenen Armen seine Hände aus. Er trägt eine Schiebermütze, Karohemd und Brille und lächelt freundlich.

Raúl Aguayo-Krauthausen

Der Aktivist, der aufgrund seiner Glasknochen  im Rollstuhl sitzt, ist in Berlin aufgewachsen und mit großem Tatendrang und  kommunikativem Talent ausgestattet. Krauthausen war 2004 Initiator der Sozial­helden e.V. Mittlerweile sind die Sozialhelden ein aktives, kreatives Netzwerk aus Freiwilligen und ein gemeinnütziger Verein mit vielen Projekten, die Menschen mit Behinderung das Leben leichter machen. Krauthausen ist seit über 15 Jahren rund um das Thema Inklusion und Barrierefreiheit in der Internet- und Medienwelt unterwegs.

Das Bild zeigt eine Straßenkarte in großem Maßstab mit kleinen farbigen Symbolen, die z.B. auf Bäckereien, Bushaltestellen oder Banken hinweisen.

wheelmap.org

Wheelmap ist eine Online-Karte zum Suchen und Finden rollstuhlgerechter Orte. Jeder kann mitmachen und öffentlich zugängliche Orte entsprechend ihrer Rollstuhlgerechtigkeit markieren – weltweit. Dafür nutzt wheelmap ein einfaches Ampelsystem.  Wheelmap gibt es auch als Smartphone-App für unterwegs.

Zu sehen ist das Cover von Raúl Aguayo-Krauthausens Buch "Dachdecker wollte ich eh nicht werden - das Leben aus der Rollstuhlperspektive" mit dem Hinweis "Mit einem Vorwort von Roger Willemsen". Der Autor sitzt in seinem elektrischen Rollstuhl vor einer Hausfassade aus Backstein. Er grüßt in die Kamera mit einem Griff an seine Schiebermütze.

"Dachdecker wollte ich eh nie werden"

Raúl Aguayo-Krauthausen ist es wichtig zu zeigen, dass eine Behinderung zu haben nur eine von vielen Eigenschaften ist. Er beschreibt, wie sein Alltag und das Miteinander von behinderten und noch-nicht-behinderten Menschen aussehen kann – ein persönliches Plädoyer für Toleranz und Freude am Leben. Raúl Aguayo-Krauthausen: Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Rowohlt
Polaris 2015, 253 Seiten, 14,99 Euro.

Mehr lesen über Raúl Krauthausens Projekte auf:
www.sozialhelden.de

fairkehr 5/2023