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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

VCD aktiv 2/2017

Interview: „Die Verkehrsmittelwahl lässt sich beeinflussen”

Paula Ruoff hat sechs Jahre im Mobilitätsbereich in London gearbeitet. Sie hat gelernt, wie Verhalten sich verändern lässt. Ihre Erfahrungen will sie nun beim VCD einbringen.

Foto: Markus BachmannPaula Ruoff arbeitet als Beraterin bei KCW – einem auf Verkehr spezialisierten Beratungsunternehmen – in Berlin. Im VCD-Vorstand ist die 31-Jährige für Multimodalität, Mobilitätsbildung und Verhaltensänderung zuständig.
Foto: privatFährt gerne Rad: 2011 ist Paula Ruoff die 105 Kilometer lange Tour-de-France-Etappe nach Alpe d’Huez nachgefahren.

Sie sind seit September 2016 VCD-Mitglied und haben direkt für den Vorstand kandidiert. Was ist Ihre Motivation?
Ich will die Ideen, die ich aus England mitgebracht habe, in Deutschland verbreiten. Dafür habe ich im VCD-Vorstand die beste Möglichkeit gesehen.

Sie haben lange in London gelebt und dort für die Mobilitätsorganisation Sustrans, einen Carsharing-Anbieter und eine Verkehrsberatungsfirma gearbeitet. Was unterscheidet den Verkehr in London von dem in Berlin?
London ist mit etwa 8,5 Millionen Einwohnern etwa doppelt so groß wie Berlin und wächst in einem ganz anderen Tempo. Da spielt der öffentliche Verkehr eine noch größere Rolle. Mit der Oyster Card – das ist eine elektronische Chipkarte, auf die man Geld aufladen kann – ist der Zugang zum öffentlichen Verkehr leichter. Man kann im Bus nicht mehr bar bezahlen, sondern nur noch mit Oyster Card oder per Kreditkarte. Der Radverkehrsanteil ist in London mit zwei bis drei Prozent eine viel kleinere Hausnummer als in Berlin. Dort sind es 13 Prozent.

Was passiert in London im Bereich Radverkehr?
Der wächst unheimlich stark. Es wird viel Geld in Radverkehrsinfrastruktur investiert, die bis vor kurzem so gut wie gar nicht vorhanden war. Es wurde groß in ein Fahrradverleihsystem investiert und der Bürgermeister Sadiq Khan und Sus-trans arbeiten daran, eine neue, autofreie Brücke über die Themse zu bauen.

Die Verkehrswende soll zu einer umwelt- und menschenfreundlichen Mobilität mit weniger Autoverkehr führen. Unterscheiden sich die Herausforderungen bei der Umsetzung der Verkehrswende in Großbritannien und Deutschland?
Von der Verkehrswende spricht man nicht in Großbritannien. Dort herrscht das Schlagwort „active travel“, da die Gesundheitsprobleme inaktiver Lebensstile mehr im Mittelpunkt stehen und der Klimawandel weniger. In Deutschland fährt fast jeder Fahrrad. Selbst Menschen, die unter der Woche immer mit dem Auto unterwegs sind, steigen am Sonntag aufs Rad. In Großbritannien gibt es viel mehr Menschen, die nie Fahrrad fahren. Diese zum Umsteigen zu motivieren, ist eine Herausforderung. Andererseits gibt es in England sehr viel mehr und bessere Erfahrung mit Marketingmethoden zur Verhaltensänderung, mit „Behavior Change Methods”. In der Hinsicht können sich Deutschland und auch der VCD noch was abgucken.

„Behavior Change” ist eines Ihrer Fachgebiete. Wie funktioniert das?
Man versucht, Menschen dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern, ohne sie zu belehren. Das geht über Interviewtechniken, die aus der psychologischen Beratung kommen. So lassen sich Menschen sanft anstupsen, ihren inneren Schweinehund zu überwinden. Es gibt Projekte, die ganze Stadtviertel ansprechen. Die Mobilitätsberater gehen von Tür zu Tür und führen persönliche Gespräche mit den Anwohnern. Die Gespräche drehen sich zum Beispiel um eine gesündere Ernährung und führen zur Hinterfragung der eigenen Verhaltensmuster. Aber auch die Verkehrsmittelwahl lässt sich beeinflussen. Die Evaluierungen der persönlichen Mobilitätsberatungsprojekte zeigen, dass die aktive Mobilität zunimmt. Auf Arbeitswegen konnten Ergebnisse von sieben Prozent mehr Wegen mit dem Rad und fünf Prozent weniger Wege mit dem Auto nachgewiesen werden. Für diese Art von Programmen fehlen allerdings in Deutschland die Finanzierungsinstrumente.

„Behavior Change”-Methoden werden in Deutschland bislang kaum eingesetzt. Können Sie diese beim VCD einbringen?
Wir konnten Fördermittel für einige spannende Projekte gewinnen, bei denen wir die Methoden nutzen wollen.  Wir werden sehen, ob sich die Erfahrungen aus England eins zu eins auf Deutschland übertragen lassen. Wahrscheinlich müssen wir die Methoden anpassen. Im neuen Projekt „Wohnen leitet Mobilität“, das direkt im Wohngebiet Alternativen zur Auto-Mobilität aufzeigt, werden wir das testen.

Gibt es noch etwas aus Ihrer Arbeit, das Sie beim VCD einbringen können?
Das wirtschaftliche Denken. Wir müssen versuchen, aus den Projekten Dienstleistungen zu entwickeln, die wir nach dem Ende der Projekte anbieten können. Wir könnten beispielsweise Kommunen zu Umsetzungsfragen oder zu Verhaltensänderungsaktionen beraten. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir den VCD mit solchen Leistungen auf eine bessere Basis stellen können.

Was sind Ihre Ziele als Vorstand?
Ich wäre richtig froh, wenn der VCD  noch stärker ein Verein zum Mitmachen würde. Mit Angeboten, die Spaß machen und Aufmerksamkeit erzeugen. Das können Angebote sein, die erstmal keinen offensichtlichen verkehrspolitischen Zweck erfüllen: ein Familienausflug mit Fahrrädern, den man am Ostermontag in der Gemeinde organisiert, oder ein Spaziergang. Die Menschen wollen ja nicht nur Mitglied in einem Verein werden, um politische Themen zu diskutieren. Vereine haben eine soziale Funktion. Man geht auch in einen Verein, um neue Menschen kennenzulernen und Anschluss zu finden.

Interview: Benjamin Kühne

Die Gesichter des VCD

fairkehr gibt dem VCD ein Gesicht: Auch 2017 sprechen wir in jeder Ausgabe mit einem Mitglied des VCD-Bundesvorstandes. Vier Frauen und drei Männer engagieren sich dort derzeit ehrenamtlich für umweltfreundliche Mobilität. Sie gestalten die Ausrichtung des VCD und repräsentieren diesen durch Lobbyarbeit gegenüber der Politik.

fairkehr 5/2023