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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 3/2016

Anderer Blick in den Spiegel

Die Bonner Greenwalker zeigen auf konsumkritischen Spaziergängen, wie jeder Einzelne die Welt – und seine Stadt – ein bisschen besser machen kann.

Foto: Kirsten LangeGreenwalker Marie-Luise Lämmle beschreibt den Lebensweg einer Jeans. Ihre Zuhörer bezieht sie während der Führung oft ein.

Fünf Frauen und Männer zwischen Mitte 20 und Mitte 30 halten auf einer Rasenfläche neben einem Elektronikmarkt in der Bonner Innenstadt Schilder mit Ländernamen in die Luft: Polen, Taiwan, Philippinen, Griechenland, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Kamerun. Sie stellen den Weg nach, den ein Kleidungsstück in seinem Leben zurücklegt – vom Weben der Stoffe bis zum Verkauf als Second-Hand-Ware oder als Hilfslieferung in Entwicklungsländer. „Ihr steht in der richtigen Reihenfolge!“, sagt Marie-Luise Lämmle. Die 30-jährige Soziologin ist eine Greenwalkerin. Jeden dritten Samstag im Monat nehmen die Bonner Greenwalker Interessierte mit auf kostenlose konsumkritische Stadtspaziergänge unter dem Motto „Bonnfairtraut!?“. T-Shirts, Mobiltelefone, Gesichtscremes, Trinkschokolade – viele Produkte reisen weit, bis sie in Deutschlands Ladenregalen landen. Und sie hinterlassen Spuren: in der Natur, der Rohstoffe entrissen werden, in der Atmosphäre, in der CO2 zurückbleibt, bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, die schlecht bezahlt werden, Regelarbeitszeiten von zwölf Stunden und wenige Rechte haben. Davon erzählen die Greenwalker – und sie zeigen auf, was die Bonner tun können, damit ihr Konsum nicht die Welt kostet.

Eine Jeans reist während ihrer Entstehung nahezu zweimal um die Erde, bis sie bei den Käufern ankommt. Das ist eine Erkenntnis der ersten Station des Winter-Stadtspaziergangs zum Thema Mode. Marie-Luise hat Fragen gestellt, Fragen beantwortet und Hintergründe erklärt. Nun führt sie ihre Gruppe hinein ins samstägliche Einkaufsgewusel. Vor dem riesigen Schaufenster eines Benetton-Geschäfts bleibt sie stehen. Menschen mit großen Einkaufstüten in beiden Händen eilen vorbei, an der Imbissbude gegenüber essen die Ersten eine Bratwurst. Manche schauen kurz herüber zu der kleinen Gruppe, die sich vor dem roten Schriftzug „Sonderpostenverkauf – alles bis zu 30 Prozent reduziert“ aufgestellt hat. Marie-Luise erzählt von Rana Plaza, einer Textilfabrik in Bangladesch, bei deren Einsturz im April 2013 fast 1130 Menschen starben und 2440 verletzt wurden. Nach weltweiten Protesten erklärten sich einige der Firmen, die in der Fabrik billig Kleidung herstellen ließen, bereit, den Hinterbliebenen Entschädigung zu zahlen – darunter Benetton. Marie-Luise hat selbst als Entwicklungshelferin im Bereich Textilproduktion in Venezuela und Indien gearbeitet. Sie kennt die Zustände vor Ort. Viele Greenwalker bringen ihre Erfahrungen aus Entwicklungsländern in die Themenführungen zu Kosmetik, Handys, Kakao oder Mobilität ein. Sie haben den Zusammenhang zwischen schnellem Konsum und Produktionsbedingungen mit eigenen Augen gesehen: in Afrika beim Abbau des Minerals Coltan für Handys oder bei der Schuhproduktion in Asien.

Gefördert werden die Greenwalker vom Programm „Bildung trifft Entwicklung“ (BTE) für entwicklungspolitische Bildungsarbeit. Gruppen und Schulklassen können individuelle Führungen und Stadtrallyes ab 20 Euro buchen – das sind zehn Prozent der Kosten, den Rest zahlt das BTE-Programm.

Faire Siegel anschaulich erklärt

Wie viel von dem Geld, das sie für ein Marken-T-Shirt zahlen, bei den Arbeiterinnen bleibt, erfahren die konsumkritischen Spaziergänger an der dritten Station. Marie-Luise lässt sie ein T-Shirt aus Tonpapier zusammenlegen. Sie sollen zuordnen, welcher Kostenfaktor wie viel Prozent des Verkaufspreises ausmacht. Nur ein Prozent bleibt als Lohn für die Arbeiterinnen, elf Prozent gehen in den Transport. Die weitaus größten Batzen schlucken die Markenfirmen (ein Viertel) und der Einzelhandel: Dort bleibt die Hälfte des Verkaufspreises hängen. „Wenn ich heute Abend in den Spiegel gucke, denke ich bestimmt anders über meine Klamotten als noch heute Morgen, als ich sie aus dem Schrank genommen habe“, sagt Dennis, der mit seiner Freundin Sandra teilnimmt. Er arbeitet fürs Klimasekretariat der Vereinten Nationen in Bonn. Auch die anderen Spaziergänger sind für das Thema Nachhaltigkeit aufgeschlossen: Schauspielschülerin Marie besucht regelmäßig alternative Kultur-, Politik- und Bildungsveranstaltungen, die freie Journalistin Hanna schreibt über entwicklungs- und klimapolitische Themen und der Informatiker Matthias ist am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs.

Foto: Volker LannertBeim Einkaufen an den Planeten denken: das grüne Bonn von oben.

Dennoch lernen auf dem Stadtrundgang alle dazu. Beispielsweise über drei vertrauenswürdige unabhängige Siegel für fair und ökologisch produzierte Kleidung: das der „Fair Wear Foundation“, den Fair-Trade-Textilstandard „Certified Cotton“ und GOTS (Global Organic Textile Standard), der vor allem ökologische Kriterien erfüllt. Vor einem Outdoor-Laden, der das „Fair Wear Foundation“-Siegel trägt, erklärt Marie-Luise Vergabekriterien, Vor- und Nachteile.

Nach zwei Stunden im Freien sind die Spaziergänger durchgefroren. Als nächste Station steuert Marie-Luise deshalb einen Fairtrade-Laden an, der neben Schmuck, Deko, Geschirr, Schreibwaren und Kleidung auch Kaffee verkauft und ihn an einer kleinen Bar ausschenkt. Man kennt sie dort, ihr Kaffee geht aufs Haus. In einem Quiz erfährt ihre Gruppe noch mehr über die Produktionsbedingungen in der Textilindustrie. Im Warmen tauschen die Bonner sich über ihre persönlichen Einkaufsgewohnheiten aus. Anschließend geht es weiter die Einkaufsstraße entlang. Der Stadtspaziergang endet in einem kleinen Geschäft mit ökologisch und fair produzierter Kleidung. Marie-Luise verabschiedet sich – und verschwindet in der Umkleidekabine.

Kirsten Lange

Mehr Infos unter bonnfairtraut.wordpress.com
Verlässliche Siegel: www.label-online.de

Konsumkritische Spaziergänge

Auch in anderen Städten bieten Vereine und Netzwerke konsumkritische Führungen an. In Köln heißt der Rundgang „Kölle global“, in Kassel sind „Die Ko-Piloten e. V.“ verantwortlich, in Düsseldorf das „Eine Welt Forum“. Außerdem hat die BUND-Jugend das „Weltbewusst“-Netzwerk gegründet: In mehr als 40 Städten gibt es aktive Gruppen, die Rundgänge anbieten. Es empfiehlt sich, in der eigenen Stadt einfach mal nachzufragen oder online zu recherchieren.

Öko-fairer Einkaufsführer

Für Bonner und Bonn-Besucher gegen Portokosten oder als Download erhältlich: Der Verein FEMNET, der sich für weltweite Frauenrechte engagiert, hat einen Mode-Einkaufsführer für Bonn produziert. Er erklärt die gängigsten Siegel und stellt 60 Geschäfte vor, die faire, ökologische oder in der EU 15 (alte EU-Länder) hergestellte Mode führen: Boutiquen, Schneidereien, Modekaufhäuser, Kindermodeläden und Outdoor-Geschäfte.
www.femnet-ev.de

fairkehr 5/2023