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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2016

Cargotopia

Die Zukunft des Güterverkehrs: immer mehr, immer schneller, trotzdem grün – die Technik wird’s schon richten. Für wie lang? Ein Szenario von Verkehrsforscher Thomas Sauter-Servaes.

Foto: Deutsche Post DHL (Bilder in der Titelstrecke modifiziert von Ina Echternach)Aufbruchsignal zur Effizienzoffensive: Das E-Fahrzeug Streetscooter war in unserem Zukunftsszenario der Startschuss.
Foto: Thomas Ledl/WikimediaEin vertikaler Wald in Mailand: 2029 wird es viele davon geben. Statt Solaranlagen aufs Dach werden sich immer mehr Hausbesitzer Gewächskästen an die Fassaden schrauben.

Ende 2029 kippte die Stimmung. Bis dahin waren sich Politik, Gesellschaft und Industrie einig, dass sich die negativen Auswirkungen des stetig steigenden Güterverkehrs vermeintlich bequem, weil ohne Konsequenzen für den Lebensstil, durch technologische Innovationen beseitigen lassen. Doch wieder einmal hatte man die Rechnung ohne den Rebound-Effekt gemacht: das Phänomen, dass Energieeinsparungen dadurch zunichte gemacht werden, dass die Menschen mit dem gesparten Geld umso eifriger konsumieren.

Das Aufbruchsignal zur Effizienzoffensive im europäischen Güterverkehr gaben die ehemals staatlichen Postmonopolisten. Die Deutsche Post veranlasste 2012 den Bau des Elektrofahrzeugs StreetScooter. In der Schweiz engagierte die Post den Mittelständler Kyburz für den Bau eines Elektrodreirads für den Zustellverkehr. Getrieben durch die neuen aggressiven Wettbewerber im Logistikmarkt setzten Europas Postgiganten gemeinsam auf eine leise und lokal emissionsfreie Fahrzeugflotte als Alleinstellungsmerkmal. Erneuerbare Energien im Tank statt Abwärme produzierende Explosionsmotoren aus dem vergangenen Jahrhundert.

Zunächst nur auf den großen eigenen Bedarf ausgelegt, nutzten die Postunternehmen gemeinsam mit Hersteller die schnell wachsende Praxiserfahrung, um ihre alltagserprobten Lastentransporter an andere Flottenbetreiber wie Kommunen, Kirchen und Einzelhändler zu vermarkten. Die kritische Masse war erreicht, die Mengeneffekte ließen die Preise rapide fallen.

Effizienzrallye im Güterverkehr

Schnell zeigte sich die „Tesla-Reaktion“ bei den traditionellen Herstellern: Aufgeschreckt durch den großen Markterfolg der neuen Anbieter, waren sie gezwungen, ihre eigenen Elektromobil-Konzepte nun tatsächlich umzusetzen und nicht weiter ihre jahrzehntelang ertragreiche Cashcow der fossilen Verbrennungsmotoren zu melken. Damit begann die Effizienzrallye im Güterverkehr, der Preis- und Leistungswettbewerb bei E-Nutzfahrzeugen nahm Fahrt auf. Anders als beim emotional aufgeladenen Kauf von Privatautos zählte für die Einkäufer vor allem das Kostenargument: Auf den kompletten Fahrzeuglebenslauf gesehen waren die urbanen E-Transporter den alten Schadstoffschleudern schon bald weit überlegen.

Die Transportbranche katapultierte sich zum Vorreiter bei der Elektrifizierung der Straße. Die kleinen Nutzfahrzeuge für die Stadt waren der erste Dominostein, der fiel und den Wandel im Fahrzeugsegment für mittlere und weitere Entfernungen anstieß. Innerhalb kürzester Zeit entstanden erste Güterkorridor-Autobahnen mit Oberleitungen, kamen Lkw-Zugmaschinen mit Brennstoffzellenantrieb zum Einsatz. Kontinentale E-Transportketten wurden Standard. Die Eisenbahn und Gummibahn – E-Lkw, die im Verbund einen Quasi-Zug auf der Straße bildeten – wurden zu wichtigen Pfeilern einer kombinierten Energie- und Verkehrswende: Als Schwarmbatterie hatten die Hunderttausenden E-Lkw das Potenzial, die schwankende Erzeugung erneuerbarer Energien netzschonend auszugleichen.

Robo-Mobile übernehmen

Den nächsten Effizienzsprung brachte die Robotisierung des Güterverkehrs. Für das gleiche Güteraufkommen wurden nun bedeutend weniger Fahrzeuge und entsprechend weniger Herstellungsressourcen benötigt, weil die Transporter und Lkw jetzt selbstständig unterwegs waren und Lenkzeitvorschriften sowie Nachtpausen sie nicht mehr halbtäglich zu Stehzeugen degradierten. Robo-Autos bescherten ihren private Eigentümern auch im Gütertransport Einnahmen, unfallbedingte Ausfallzeiten tendierten gegen null. Die kleinere Anzahl Fahrzeuge konnte zudem über virtuelle Deichseln verbunden und damit dichter gestaffelt werden: Der Flächenverbrauch des Straßengüterverkehrs halbierte sich – bei gleicher Leistungsfähigkeit.

Der technische Fortschritt realisierte also bis 2029 im Verkehr einen enormen Effizienzsprung. Der ökologische Fußabdruck pro befördertem Kilogramm und Kilometer war innerhalb von 15 Jahren auf ein Fünftel gesenkt worden. Die Technologiejünger hatten mit ihren optimistischen Voraussagen recht behalten: Die Effizienzrevolution war gelungen, sogar schneller als pro-gnostiziert. Und doch scheiterte der Ansatz grandios, allein auf vermeintlich grüne, weil effizienzsteigernde Technologien zum Erreichen der Umweltziele zu setzen.

Denn das effizienzgeleitete Triumvirat aus Digitalisierung, Elektrifizierung und Robotisierung hatte die Warenbeförderung so billig, einfach und schnell werden lassen, dass das Warenaufkommen im gleichen Zeitraum explodierte und dieser Reboundeffekt die ökologische Technologierendite mehr als kompensierte. Eine Heerschar privater Robo-Mobile bot nun ihre Transportleistung an, anstatt zu parken, während die Eigentümer ihre Dienste nicht benötigten. Über die Cargo-Taxi-Plattform CUBER konnten Privatpersonen und professionelle Flottenanbieter sich mit einem Klick zahlreiche Beförderungsoptionen buchen, vom urbanen Kurierservice bis zum grenzüberschreitenden Palettenversand. Einzelhändler unterhielten eine riesige Armada von Lieferrobotern, eine Art autonom verkehrenden und treppengängigen Einkaufswagen, die dem dominierenden Serviceleitbild „Next-Moment-Delivery“ gemäß schon für eine einzelne Zahnpasta-Tube in Bewegung gesetzt wurden. Die E-Mikromobile bedienten auch die große Anzahl neuer Landbewohner, die dank selbstfahrender Automobile längere Pendlerzeiten nicht mehr scheuten. Diese Suburbanisierung verringerte nicht nur die Bündelung von Warentransporten, sondern führte auch zu deutlich längeren Lieferweiten.

Sharazon löst Hyperkonsum aus

Aufgrund der 24/7-Einsatzfähigkeit der selbstfahrenden Vehikel vervielfachte sich die Transportkapazität im Markt. Die Preise rauschten in den Keller und führten zu einer vollkommen neuen Konsumkultur. So war das Sharing-Netzwerk Sharazon Auslöser für ein Jahrzehnt des Hyperkonsums. Immer mehr Verbraucher investierten die „Nutzen statt Besitzen“-Einsparungen in zusätzlichen Sharing-Konsum. Der letzte Schrei war es, komplette Wohnungseinrichtungen zweimal im Jahr gegen eine weitere temporäre Kulisse für neue Lebensgeschichten auszutauschen. Dank der niedrigen Transportpreise waren immer mehr Artefakte fast ständig unterwegs zwischen den Millionen Tauschpartnern. Das Internet der Dinge manifestierte sich auf der Straße.

2029 erfolgte die Notbremsung. Statt den längst überwunden geglaubten Rufen nach zusätzlicher Verkehrsinfrastruktur zu folgen, wagten es die Europäer, den Raumwiderstand für Warentransporte bewusst wieder zu erhöhen. Sie entzogen Teile der Infrastruktur komplett dem motorisierten Verkehr und setzten eine flächendeckende Maut durch, gestaffelt nach Entfernung und Straßentyp. Vor dem Hintergrund zunehmender Wetterkatastrophen fand die Idee der Selbstversorgung immer größeren Rückhalt in der Bevölkerung. Waren die Städter dank des neuen Mobilitätsangebots in Scharen aufs Land geflüchtet, zog die ländliche Produktion nun in die Stadt. Urbane Gärten sicherten einen Großteil der Lebensmittel-Grundbedürfnisse, nicht zuletzt auf ehemaligen Autostellplätzen. Statt Solaranlagen aufs Dach schraubten Hauseigentümer immer mehr Gewächskästen an die Fassaden. Der Stadtlandwirt setzte sich an die Spitze der Trendberufe.

3D-Kioske verkleinern Kreisläufe

Während bei Waren des täglichen Bedarfs und bei Baustoffen Regionalität und Saisonalität in den Fokus rückten, verpflichteten sich die Hersteller langlebiger Güter vermehrt zur „Many Lives“-Methode: Durch Baukastenprinzip und Anwendung weithin verfügbarer Universalwerkzeuge trug sie dazu bei, dass Produkte sich immer wieder reparieren und langfristig updaten ließen. Den Produzenten garantierte es im Gegenzug eine langfristige Kundenbindung. Vor allem technische Hardware ließ sich nun wieder gezielt modular erneuern, wie es bei Software schon lange üblich war.

Dank 3D-Drucks wurden viele Update- und Ersatzteile nicht mehr verschickt, sondern lokal in Lizenz produziert. Dabei symbolisierten die vielen innerstädtischen 3D-Kioske die globale Entwicklung: Während Informationen und Wissen noch schneller weltweit in großen Kreisen zirkulierten, verkleinerten und verlangsamten sich die Stoffkreisläufe. Gleichzeitig waren die Kioske der letzte Sargnagel für die Charta von Athen, die mit ihrer räumlichen Entflechtung von Arbeit und Wohnen einst der autogerechten Stadt den Weg geebnet hatte. Re-Industrialisierung und Neo-Agrarisierung der Stadt in dezentralen, auf die Nahversorgung ausgelegten Produktionsstätten bildeten das neue Fundament urbanen Lebens: mit erheblich weniger Verkehr und mehr Platz für Menschen.

Die Post wurde weiterhin mit E-Mobilen zugestellt, jetzt entsprach das Aufkommen allerdings wieder der Jahrtausendwende.

Thomas Sauter-Servaes

Der Autor war Tourismusreferent beim VCD und leitet seit 2013 den Studiengang „Verkehrssysteme“ an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Mit seinem Büro mobilecular berät er Unternehmen in Zukunftsfragen.

fairkehr 5/2023