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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2016

Aufmerksam im autonomen Auto

Das selbstfahrende Auto wird die Anforderungen an die Menschen auf dem Fahrersitz radikal verändern. Ob das den Fähigkeiten und Wünschen der „Fahrer“ noch entspricht, beantwortet Verkehrspsychologe Bernhard Schlag im Interview.

Grafik: www.weareplayground.com

fairkehr: Mit automatisiertem oder autonomem Fahren verbinden viele Menschen die Freiheit, sich nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Werden wir zukünftig während der Fahrt Bücher lesen?

Bernhard Schlag: Es wird möglich sein, etwas nebenher zu machen. Man sollte aber in der Lage sein, die Fahrtätigkeit rechtzeitig zu übernehmen, wenn die Technik versagt. Die Frage ist, ob man das schafft. Da sehe ich ein Problem.

Wie lange braucht man, um aus der Ablenkung heraus eingreifen zu können?

Bei schneller Fahrt enorm lange. Wir diskutieren – je nach Bedingungen – über drei bis zehn Sekunden. Ich gehe davon aus, dass es gerade im kritischen Fall länger dauert. Zehn Sekunden Blindflug auf der Straße sind nicht tolerierbar.

Können Menschen in brenzligen Situationen überhaupt eingreifen, wenn sie während der Fahrt nichts tun müssen?

Es ist schwierig. Zum Beispiel sind Züge heute hoch automatisiert. Dennoch müssen die Lokführer dauernd motorisch aktiv sein – die sogenannte Sicherheitsfahrschaltung oder „Totmanneinrichtung“ bedienen –, damit sie aufmerksam bei der Sache bleiben. Man traut den Menschen nicht zu, sich auf die Fahrt zu konzentrieren, wenn sie nichts tun müssen. Beim autonomen Autofahren sehe ich da eine gedankliche Fehlentwicklung. Vor kurzem ist in den USA ein Fahrer eines Tesla tödlich verunglückt. Während der Fahrt hat er laut Medienberichten einen Harry-Potter-Film angeschaut. In solchen Situationen ist die Aufmerksamkeit falsch ausgerichtet und eine schnelle Übernahme fast unmöglich.

Sind automatisierte Fahrzeuge sicherer als Autos, die von Menschen gefahren werden?

Es gibt bei hoch- oder sogar vollautomatisierten Fahrzeugen einen impliziten Sicherheitsgewinn. Das automatisierte Fahrzeug wird sich immer exakt an die Verkehrsregeln halten. Es wird immer einen defensiven Fahrstil haben, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig bremsen, die Geschwindigkeit nicht übertreten, es wird nicht betrunken oder unter Drogen fahren. Das automatisierte Fahrzeug ist so etwas wie der besonders gute Autofahrer, der auf alle Rücksicht nimmt. Es könnte zu einem Katalysator für einen viel sichereren Verkehrsablauf werden – der allerdings auch ohne Automatisierung erreichbar wäre.

Gibt es Dinge, die Fahrerinnen und Fahrer besser können als der Autopilot?

Bei allen Automatisierungen werden die Prozesse anhand von Algorithmen gesteuert. Das sind vordefinierte Handlungsroutinen. Aber Situationen, die überhaupt nicht planbar sind, können nicht vordefiniert werden. Nehmen wir beispielsweise an, dass ein Kind auf die Straße läuft. Es war weder für den Menschen noch für die Maschine zu sehen, weil es hinter Fahrzeugen verborgen war. Der Mensch kann solche Situationen aus der Erfahrung heraus besser lösen. Beispielsweise weil er weiß, dass es in der Nähe einen Kindergarten oder eine Grundschule gibt, dass er mit Kindern rechnen muss und daher handlungsbereit ist. Man versucht sich mit Fuzzylogik, einer Theorie für die Modellierung von Unsicherheit, und anderen Programmierungen der menschlichen Flexibilität anzunähern. Vermutlich aber bleibt die Gefahrenantizipation eines erfahrenen menschlichen Lenkers auch langfristig besser.

Wer ist schuld, wenn ein Unfall passiert – die Person auf dem Fahrersitz, der Fahrzeughalter oder der Hersteller?

Bislang gilt in Deutschland die Fahrerhaftung. Wer am Steuer sitzt und den Unfall verursacht, muss dafür haften. Wenn der Fahrer aber nicht identifiziert werden kann, etwa bei einem Motorradfahrer mit Integralhelm, oder wenn es keinen Fahrer gibt, wie im autonomen Auto, haben die Juristen ein Problem. Derzeit diskutiert eine Kommission der Bundesregierung über Alternativen wie die Haftung des Fahrzeughalters oder des Herstellers. Volvo hat schon signalisiert, das sie sich vorstellen können, für bestimmte Automaten eine Herstellerhaftung einzugehen. Ich vermute, dass die anderen Hersteller – gerade nach dem Tesla-Unfall – mit solchen Aussagen vorsichtiger werden. Auch über ethische Fragen im Zusammenhang mit autonomem Fahren diskutiert die Kommission der Bundesregierung.

Welche Fragen sind das?

Wie die autonomen Autos in Gefahrensituationen reagieren sollen. Bei der Diskussion um Vision Zero vor 20 Jahren hat Daimler gesagt: „Ja, wir wollen Vision Zero“, während andere Institutionen zögerlicher waren. Wenn man das Kleingedruckte las, stand da, man könne sich vorstellen, null Verkehrstote für die Insassen der eigenen Fahrzeuge zu erreichen. Die Konsequenz für ein autonomes Auto wäre ein Algorithmus, der immer auf den Schutz seiner Insassen programmiert ist. Das kann zu riesigen Problemen führen. Man stelle sich vor, das Auto würde im Konfliktfall eher die Fußgänger auf dem Bürgersteig überfahren, als die Insassen zu gefährden. Ethisch und juristisch gibt es hier eine Vielzahl ungelöster Probleme.

Werden die Menschen automatisierte Autos akzeptieren oder sind sie gegenüber der neuen Technik eher skeptisch?

Momentan sind die Menschen eher skeptisch. Die meisten haben gern das Steuer in der Hand, weil sie sich als Herr des Geschehens fühlen möchten. Außerdem trauen sie der neuen Technik noch nicht. Das ist ein generelles Problem neuer Entwicklungen. Wenn sie das autonome Fahren ausprobieren, wird sich das Vertrauen vermutlich schnell entwickeln. Wenn Menschen hundertmal gute Erfahrungen mit etwas gemacht haben, rechnen sie überhaupt nicht mehr damit, dass etwas schiefgehen kann. Dieses sehr starke Vertrauen kann dazu führen, dass man sich selbst dequalifiziert und Kompetenzen verliert. Das wird zum gravierenden Problem, wenn eine Übernahmesituation entsteht.

Ein großer deutscher Autohersteller hat lange mit dem Spruch „Aus Freude am Fahren“ geworben. Diese fällt mit dem automatisierten Fahren weg. Wird zukünftig mehr oder weniger Auto gefahren?

In der Verkehrspsychologie unterscheiden wir drei Funktionen des Autofahrens: die Transportfunktion, die Bedeutung als Statussymbol und die intrinsische Bedeutung des Fahrens. Die intrinsische Funktion ist die stärkste – viele Menschen fahren gern Auto und tun dies zum Teil sogar als Freizeitbeschäftigung. Sie wollen die Fahrtätigkeit nicht abgeben. Sie wünschen sich eher ein Assistenzsystem, das im Notfall für sie bremst, oder eines, das ihnen das unangenehme Fahren im Stop-and-go-Verkehr abnimmt. Ein Kollege hat mal gefragt: „Ist das nicht alles ein subtiler Versuch, den Leuten endlich das Autofahren abzugewöhnen?“ Das ist sicherlich ein bisschen übertrieben, aber es wird diese Tendenz geben.

Bieten autonome Autos einen ökologischen Vorteil?

Die Autos werden regelkonform, gleichmäßig und langsam fahren. Das macht das Fahren sicherer und hat einen umweltschonenden Effekt, der mit einem spritsparenden Fahrstil vergleichbar ist.

Können autonome Autos in Verbindung mit Carsharing die Zahl der Pkw in unseren Innenstädten verringern?

Vorerst nicht. Carsharing wird vor allem in großen Städten und Ballungsgebieten erfolgreich angeboten. Genau dort sind die Bedingungen für autonomes Fahren ungünstig. Es ist kein Zufall, dass erste Versuche in Deutschland auf der A9 – einer sehr gut ausgebauten Autobahn – stattfinden. Die innerstädtische Verkehrssituation ist extrem komplex und erfordert die Programmierung entsprechend komplexer Algorithmen, die jede denkbare Verkehrssituation abdecken. Das fahrerlose „Taxi on demand“ in der Stadt kommt erst am Ende der Entwicklung – wenn überhaupt. Wenn es Realität wird, dann allerdings tatsächlich bei so niedrigen Geschwindigkeiten, dass es Vorteile für die Umwelt und für die Sicherheit bietet.

Interview: Benjamin Kühne

Foto: privat

 

 

 

 

Prof. Dr. Bernhard Schlag leitet die Professur für Verkehrspsychologie an der TU Dresden und ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des VCD.

fairkehr 5/2023