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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2016

Freie Fahrt für Roboter?

In den USA tüftelt die Digitalwirtschaft schon länger an selbstfahrenden Autos, nun gibt es auch einen Hype bei den deutschen Autofirmen. Es geht um Milliardenmärkte – nicht um Verkehrspolitik.

Grafik: www.weareplayground.com
Grafik: www.weareplayground.com

Plötzlich drängen alle zur Pole-Position. Jahrelang hatten die deutschen Fahrzeughersteller das selbstfahrende Google-Auto belächelt – jetzt geraten sie in Panik. Vor allem Daimler-Boss Dieter Zetsche möchte mit seinem Unternehmen die Überholspur okkupieren. Die S-Klasse von übermorgen wird präsentiert als rollende Luxus-Lounge, in der die Insassen auf drehbaren Nappaleder-Sesseln entspannen oder eine Konferenz abhalten, derweil sie in der eleganten, windschnittigen Hülle zum Ziel rasen. Sechs hochauflösende Bildschirme sollen die Limousine außerdem zu einem „digitalen Erlebnisraum“ machen, sodass die Reisenden durch Gesten und Blicke mit dem Auto und der Umwelt interagieren können.

Neben Daimler haben auch Audi und VW erfolgreich Zulassungen für selbststeuernde Fahrzeuge in Nevada beantragt. Der US-Bundesstaat gilt als Eldorado für Tests auf echten Straßen. Wie üblich springt Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt der deutschen Autowirtschaft bei: Deutschland soll der „Leitmarkt“ für autonome Fahrzeuge werden, kündigte der CSU-Mann Mitte Juni auf einer Kabinettsklausur an. Dafür will er das „innovationsfreundlichste Straßenverkehrsrecht der Welt“ einführen.

Doch welches Problem soll hier eigentlich gelöst werden?

Die deutschen Autohersteller wollen mit aller Macht verhindern, dass digitale US-Riesen sie zu Zulieferern degradieren. „Ihr Interesse besteht darin, dass die kommenden Veränderungen möglichst langsam stattfinden und es nicht zu disruptiven Entwicklungen kommt wie vor ein paar Jahrzehnten in der Kameraindustrie“, beschreibt Konrad Götz vom Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) die Lage. Doch Bremsen allein genügt nicht. Um ihr traditionelles Geschäftsmodell zu retten, gingen BMW, Audi und Daimler im vergangenen Herbst gemeinsam auf Einkaufstour: Für 2,8 Milliarden Euro erwarben sie den Kartenhersteller Here, den Nokia ursprünglich für seine Smartphone-Kunden aufgebaut hatte. Hauptmotiv für die Übernahme war zu verhindern, dass Google, der Taxidienst Uber oder ein chinesisches Unternehmen einsteigen konnten. Denn klar ist: Die Standards für die Technik, mit der sich Wagen im Straßenraum orientieren, sind zentral für die Gesamtentwicklung.

 Sowohl Here als auch der niederländische Kartendienst Tomtom nutzen für die Herstellung ihrer Karten rotierende Laserscanner, die auf Autos montiert sind und sogar Bordsteinkanten, überstehende Gullideckel, Laternen und Straßenschilder zentimetergenau erfassen. Damit ist die Technik nicht nur wesentlich genauer als Navis, sondern funktioniert auch unabhängig von Satellitensignalen. Längerfristiges Ziel von Here und Tomtom sind dynamische Landkarten, die sich permanent aktualisieren und auch Baustellen oder neue Schlaglöcher erfassen. Die Vision der Ingenieure: Alle Wagen, die die Pläne nutzen, sind mit Stereo- und Fischaugenkameras, Ultraschallsensoren, Radar- und Lasersystemen ausgerüstet, liefern laufend Straßenbilder und tragen so selbst mit bei zur Abbildung der Verkehrsinfrastruktur in Echtzeit.

Autopilot fürs Premiumsegment

Aus der Perspektive der deutschen Automobilindustrie sind derartige Neuerungen eine Fortentwicklung ihrer Service-Elektronik. Abstandhalter, Spurassistenten und Einparkhilfen gehören inzwischen zur Ausstattung vieler Luxuslimousinen – und bald wird jeder Durchschnittswagen damit ausgestattet sein. Für das Premiumsegment muss also etwas Neues her. Im Stau auf der Autobahn oder bei der Parkplatzsuche einen Autopiloten einschalten zu können, würde der betuchten Kundschaft einen neuen Komfortvorsprung verschaffen. „Autopapst“ Ferdinand Dudenhöffer prognostiziert ein gutes Geschäft: 300 Milliarden Euro für Fahrerassistenzsysteme im Jahr 2030. Völlig undenkbar erscheint ihm und den deutschen Herstellern hingegen, dass viele Fahrer das Steuer ganz aus der Hand geben wollen. Schließlich steht das Auto für sie wie kein anderer Gegenstand für Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Spaß. Auch das Gesetz schreibt bisher vor, dass Fahrer jederzeit die Kontrolle über ihr Auto behalten müssen.

Ganz anders als Daimler präsentiert Google seinen steuerlosen Wagen. In einem Werbevideo kommt das niedlich-knautschige Gefährt von selbst angefahren. Kinder, Blinde und Omas mit Basecaps lassen sich auf die beiden knallorangen Sitze fallen. Sie genießen den Fahrtwind und fassen einander beglückt an den Händen. Die Botschaft ist eindeutig: Hier sind Menschen unterwegs, die sonst kein Auto nutzen könnten. Als der Konzern vor zwei Jahren Journalisten einlud, an einer Probefahrt in einem mit Google-Technik gespickten Toyota-SUV teilzunehmen, fanden viele das Erlebnis unspektakulär und langweilig. Unauffällig bewegte sich der Wagen im dichten Verkehr des Silicon Valley, beschleunigte zügig, überholte sicher und wich Hindernissen aus. „Schließt man die Augen, ist kein Unterschied zu einem menschlichen Fahrer zu spüren“, beschrieb der Spiegel-Korrespondent das Erlebnis.

„Google will längerfristig keine Autos verkaufen, sondern hat Interesse an den Daten, aus denen sich dann Dienstleistungsprodukte formen lassen“, beschreibt Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin WZB den Ansatz. Auch hier gibt es staatliche Unterstützung: Das US-Verkehrsministerium will Autohersteller ab 2020 verpflichten, in jeden Neuwagen Funkmodule einzubauen, damit er mit anderen Fahrzeugen kommunizieren kann und jederzeit identifizierbar ist.

Natürlich werden selbstfahrende Autos auch als Segen für die Allgemeinheit und die Umwelt angepriesen. Ressourcenschonender sollen sie sein und Unfälle verhindern. Zwar endete vor kurzem die Tour in einem Elektro-Sportwagen der Firma Tesla tödlich für den 40-jährigen Fahrer: Die Kameras interpretierten die helle Seitenwand eines Lkw falsch und so raste das Auto ungebremst dagegen. Doch für Weert Canzler vom WZB steht trotzdem außer Frage, dass Sensortechnik zuverlässiger sein kann als Menschen, die auch mal müde, abgelenkt und betrunken sind oder einfach nur schnell fahren wollen. Auch der verkehrspolitische Sprecher des VCD, Gerd Lottsiepen, meint, dass sich Roboter – anders als viele Menschen – an die Verkehrsregeln halten.

Mehr Sicherheit, weniger Unfälle

Doch bedeutet das automatisch weniger Crashs? Der Mobilitätsforscher Konrad Götz geht nicht davon aus. „Wenn wir am Leitbild der Rennreiselimousine festhalten und Verkehr ein Hochgeschwindigkeitsthema bleibt, nimmt die Komplexität des Gesamtsystems mit den autonomen Fahrzeugen weiter zu“, sagt er und ergänzt: „Würde es tatsächlich um mehr Sicherheit gehen, gäbe es – wie Schweden mit der Vision Zero zeigt – viel einfachere Wege, Unfälle zu vermeiden: Alkoholverbot am Steuer und eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung.“

Hinzu kommt die Gefahr durch Hackerangriffe. Vor kurzem drangen zwei US-Amerikaner mit Hilfe eines Laptops über die Info- und Unterhaltungselektronik in einen Jeep ein. Nicht nur Scheibenwischer, Klimaanlage und Türverriegelung spielten verrückt, sondern auch die Lenkung und die Bremsen. Das Fahrzeug landete im Straßengraben.

Solche Bedrohungen ließen sich wahrscheinlich zum Großteil ausschalten, wenn die Software für die Infrastruktur ein Gemeingut wäre – so wie das Betriebssystem Linux, das von vielen Nutzern gemeinsam entwickelt und ständig verbessert wird. Dadurch sind die Sicherheitslücken wesentlich kleiner als beim kommerziellen Betriebssystem Win-dows. Weil der Linux-Programmiercode „Open Source“ und damit für jeden einsehbar ist, können hier außerdem keine geheimen Hintertüren eingebaut werden, durch die Konzerne oder staatliche Stellen unbeobachtet Nutzerdaten abgreifen. Längst gibt es solche Formen kollektiver Entwicklungen nicht mehr nur im Softwarebereich – sie sind auch bei komplexen materiellen Produkten zu finden. Auf der Plattform Wikispeed treffen sich Tüftler aus aller Welt und arbeiten an spritsparenden Autos und Motorrädern, die in Gemeinschaftswerkstätten nachgebaut werden können. Auch diese Pläne sind „Open Source“: Jeder darf sie studieren, nutzen und weiterentwickeln. Würden die Kommunikationssysteme im Straßenverkehr nach dem gleichen Muster konstruiert, könnte die Öffentlichkeit politischen Einfluss auf die Gestaltung des Systems nehmen und es später auch jederzeit kontrollieren.

Bisher allerdings beschränkt sich die Diskussion überwiegend auf technische und ökonomische Aspekte. Gesellschaftspolitisch relevant erscheint lediglich die ethische Frage: Wie wird ein Autopilot programmiert für Situationen, in denen auf jeden Fall Tote zu erwarten sind? Andere Verkehrsteilnehmer als die Autoinsassen spielen nur als Opfer oder Störfaktoren eine Rolle. Was aber, wenn man ihre Interessen ins Zentrum stellen würde? Steckt in dem Ganzen nicht auch eine Chance zum Umsteuern – weg von der Fixierung der Verkehrspolitik aufs Privatauto und hin zu einer Rückeroberung des öffentlichen Raums?

Ein Blick in die Zukunft

Man stelle sich eine Stadt vor, in der der gesamte motorisierte Individualverkehr durch elektrisch angetriebene, selbststeuernde Autos abgewickelt wird. Kaum jemand besitzt noch ein eigenes Auto – wozu auch? Jeder kann bei Bedarf einen Wagen vor die Haustür ordern. Aus Sicht eines heutigen Autofahrers mit eingebauter Vorfahrt sind die zwar langsam unterwegs. Aber weil es nur noch ein Zehntel der früheren Fahrzeugmenge gibt und die Autos gleichmäßig rollen, entstehen keine Staus. Was früher Parkplatz war, ist nun Park – attraktive Bedingungen für Radler und Fußgänger. Natürlich gibt es auf viel genutzten Strecken weiter Busse und Straßenbahnen, aber auch selbststeuernde Autos gehören jetzt zum öffentlichen Verkehr. Wie die Computersoftware programmiert ist, können alle Interessierten einsehen, und als öffentliches Gut ist sie gestaltbar. So ist nicht nur garantiert, dass keine Privatdaten abgegriffen werden – sollten sich die Stadtbewohner entschließen, den Autoverkehr anders regeln zu wollen, hätten sie die Macht dazu.

Aufwachen! Wir sind in der deutschen Gegenwart. Und da hat Verkehrsminister Dobrindt gerade 80 Millionen Euro Forschungsgelder und eine Kommission zum Thema autonome Fahrzeuge angekündigt. Teilnehmen sollen Automobil- und Digitalindustrie sowie Wissenschaftler. Der VCD aber will das Thema nicht den Etablierten überlassen. Im September veranstaltet er in Kassel ein Zukunftscamp „Stadtverkehr 2050“ für junge Menschen. Mit ihren Ideen und Forderungen werden kommunale Verkehrsplaner im November auf einer Fachtagung konfrontiert.

Nicht technische Entwicklungen, sondern Gesellschaft und Politik entscheiden, wie und wohin das autonome Auto fährt.

Annette Jensen

fairkehr 5/2023