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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 4/2016

Bahntunnel in die Zukunft

Durch das Schweizer Gotthard-Massiv führt seit diesem Sommer der längste Eisenbahntunnel der Welt. Ein ganzes Tal, das Valle Leventina im Tessin, hofft auf Verkehrsentlastung und einen festen Platz auf der touristischen Landkarte.

Foto: swiss-image.ch/Lucia DegondaAb durch die Alpen: ein ICE vor dem Nordportal des neuen Gotthardtunnels.
Foto: AlpTransit Gotthard AG/Maurus HuwylerEbenfalls am Gotthardpass liegt das Reusstal mit spektakulären Schluchten.
Foto: AlpTransit Gotthard AGDie erste Testfahrt im Gotthardtunnel.

Hans van der Linden ist Niederländer, wohnt in der Schweiz und braucht nur ein Stückchen Käse, um ein Lächeln in die Gesichter von Belgiern, Franzosen und Deutschen zu zaubern. Die gestresste Kundschaft van der Lindens ist auf dem Weg in den Urlaub und hat gerade den Gotthard-Tunnel durchquert, der Tausende Fahrzeuge pro Stunde ins Licht spuckt. Die Leute sehnen sich nach einer Pause, nehmen die erste Ausfahrt und landen in der „Caseificio del Gottardo“ in Airolo, wo sie dem Niederländer in die Arme laufen. Er reicht ein Stück Gottardo-Käse und erzählt, wie wohl er sich inmitten der grünen Bergwelt des Valle Leventina im Schweizer Kanton Tessin fühlt.

Für viele ist das Gotthard-Bergmassiv nur ein störendes Hindernis, durch das die Schweizer 1980 den mit 17 Kilometern längsten Straßentunnel von Nord nach Süd durch die Alpen geschaufelt haben. Dabei steht der Berg für ein grandioses Kapitel Schweizer Geschichte. Die Eidgenossen haben vor 75 Jahren Festungen in den Berg gemauert und Tunnelsysteme gezogen, um sich im Fall der Fälle bei einem Angriff von Nazi-Deutschland verteidigen zu können.

Und jetzt schlagen sie ein neues Kapitel auf: Im Juni wurde der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel, der längste Eisenbahntunnel der Welt, offiziell eröffnet. Damit hat nach mehr als 15 Jahren Bauzeit die sechsmonatige Testphase im Zugbetrieb begonnen. Zum Fahrplanwechsel im Dezember werden die Schweizer den Eisenbahntunnel in Betrieb nehmen. Falls der Plan aufgeht und die Transportunternehmen ihre Ladung vom Lkw auf den Zug packen, entlastet das die Straßen und Autobahnen der Region spürbar. Das Tal würde erheblich an Erholungswert gewinnen.

Käsekeller im Militärbunker

Die Touristiker haben bereits Kampagnen in der Schublade, mit denen sie Reisende zu mehr und längeren Zwischenstopps animieren wollen. Motto: Wir sind ein attraktives Reiseziel und keine zeitraubende Durchgangsstation. Unterm Strich soll der Tunnel dem Valle Leventina einen festen Platz auf der touristischen Landkarte bescheren. An kreativen Ideen und cleveren Köpfen fehlt es nicht. Im Berg gibt es bereits Geheimkammern mit Gold-Verstecken für Superreiche und  Rechenzentren mit Mega-Computern, um Daten maximal zu schützen. Und touristische Attraktionen wie ein Museum im Berg, ein Hotel tief im Inneren der Felsen, eine Lagerstätte für edlen Wein oder einen Käsekeller.

Womit wir wieder bei Hans van der Linden sind. Seine edelsten Stücke reifen in einem ehemaligen Militärbunker im Gotthardmassiv. In einigen Räumen stehen alte Stockbetten. Die meisten hat man aber leergeräumt, um Platz für Regale zu schaffen, auf denen nun Hunderte Laibe lagern. Der Niederländer und seine Kollegen säubern sie jeden zweiten Tag. „Die Luft im Berg gibt dem Käse besondere Reife und exzellenten Geschmack“, sagt van der Linden.

1996 schlossen sich 20 Gotthard-Bauern zusammen, um die drei Millionen Liter Milch, die ihre Kühe jährlich geben, gemeinsam zu verarbeiten und die Produkte einheitlich zu vermarkten. Niemand hätte gedacht, dass daraus einmal eine Touristenattraktion mit Restaurant und Verkaufsraum wird und im Keller Besuchergruppen bei Führungen über die Käse-Herstellung staunen. Die Käserei ist ein echter Multikulti-Ort. Das liegt nicht nur an den Reisenden aus ganz Europa. Hinter der Theke stehen Italiener und sogar Portugiesen wie Luisa Aranjo: „Ich liebe diese Gegend. Viele denken, hier sei nur Autobahn, dabei kann man bei uns so viel erleben.“

Hotel tief im Fels

Zu den Höhepunkten zählt sicherlich eine Fahrt auf der berühmten Tremola zum Gotthard-Pass hinauf. Seit es eine Schnellstraße gibt, nehmen den alten Pflasterweg mit halsbrecherischen Serpentinen vorwiegend Romantiker in Angriff. Wer sich das volle, wenn auch teure (siehe Infokasten) Erlebnis gönnen will, sollte die alte Postkutsche wählen, die nur noch aus nostalgischen Gründen verkehrt. Postillon, Kondukteur und Fünfspänner führen die Gäste vom Urserental zum Gotthard und hinunter nach Airolo.

Früher galt die Fahrt als Strapaze, heute zieht sie sich über einen Tag und ist dank diverser Stopps und viel Komforts sein exklusives Vergnügen. Bei der Tour hält man fürs Mittagessen im alten Hospiz auf der Passhöhe, das Reisende  bereits im 17. Jahrhundert als Pausenstätte diente. Es zählt zu den wenigen Hotels der Region. Vor allem gut betuchte Gäste, die am Gotthard wandern wollen, bevorzugen die Top-Häuser am Lago Maggiore. Hotels wie das Eden Roc in Ascona zählen zu den besten Adressen in Europa, bieten Privatstrand, Wassersportschule und Gourmetküche.

Dafür kann der Gotthard mit dem „La Claustra“ aber eine der außergewöhnlichsten Unterkünfte der Welt bieten. Es ist nicht leicht zu finden – was mit seiner Vergangenheit zusammenhängt, als es ein versteckter Militärbunker war. Deswegen muss man eine große Eisentür aufschieben, um in den unterirdischen

Tunnel zu gelangen, der zum Hoteltrakt führt. Kerzen erhellen die Gänge und sorgen für eine friedliche Stimmung. Hierhin zieht man sich zurück, wenn einem die Welt draußen zu laut, zu schnell, zu viel geworden ist. Keine Uhr, kein Handyempfang, kein Internet. Nirgendwo ist Ruhe ruhiger als hier. Auf ein feines, mehrgängiges Abendessen folgt der tiefstmögliche Schlaf, den man sich vorstellen kann.

Edler Tropfen auf 1329 Metern

Der nächste Morgen bringt die Erkenntnis, dass man schnell jegliches Zeitgefühl verliert. Wenn man in der Annahme, es sei später Vormittag, ans Tageslicht tritt, hat sich die Sonne noch nicht einmal über die hohen Berge gekämpft. Der Morgennebel hängt tief über dem Gotthardpass und begleitet einen bei der Wanderung zum Lago della Sella. Man will einfach wissen, wie es sich anfühlt, über diesen ausgehöhlten Berg zu laufen. Man hat ein mulmiges Gefühl, wenn man sich vorstellt, dass dort unten Tunnel und Stollen sind. Auf dem Weg hat man Gewissheit, den Gotthard-Straßentunnel zu überqueren, der freilich 1000 Meter unter den eigenen Füßen verläuft.

Nicht ganz so tief im Fels befindet sich das Reich von Ezio de Bernardi. Der Zwei-Meter-Mann hat ein feines Näschen und ein geschicktes Händchen. Mit dem bedient er vorsichtig eine Pipette, um Wein aus einem großen Fass zu saugen. Die Gläser färben sich tiefrot. Der Winzer sagt: „Der Wein nimmt hier im Berg eine andere Straße. Er wird eleganter und fruchtiger.“

Seit 2001 lässt der 61-Jährige seinen edelsten Tropfen auf 1329 Metern reifen. Doch allein die Höhe macht es nicht. Die Fässer lagern tief im Gotthard und sind mit meterdicken Mauern von der Außenwelt abgeschottet. Ezio de Bernardi hat den Wein „Gran Segreto“, großes Geheimnis, getauft. Er konnte es nur wenige Wochen hüten, dann wussten die Bewohner des Tals Bescheid. Schließlich hat de Bernardi Räume in einem Bunker angemietet, der zugleich Museum ist. Das Forte Airolo wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Besucherinnen und Besucher können die Waffen bestaunen, mit denen die Schweizer das Tal, die Straßen und den Eisenbahntunnel damals verteidigen wollten. Der Stollen, der zu den Schienen führt, ist noch begehbar. Die „Gebirgsbahn“ von 1882 wurde als Schweizer Eisenbahnwunder gefeiert.  Und nun kommt ein neues Kapitel dazu

Christian Schreiber

Grafik: fairkehr/Denise GraetzDer Bahntunnel verbindet die Kantone Uri und Tessin.

fairkehr 5/2023