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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 3/2016

Luxus ohne Toilette

Eine Nacht im Wald macht glücklich. Auch bei Temperaturen von einem Grad. Dank Zwiebelprinzip, Wein und Lagerfeuer.

Foto: Ina Echternach/www.polaroid-fotografie.deAuf das Mikroabenteuer: Das Nachtlager ist aufgeschlagen, bald geht die Sonne unter.
Foto: Ina Echternach/www.polaroid-fotografie.deWas summt denn da? Hunderte Hummeln, die die Stille füllen.

Wandern Sie?“ fragt die Verkäuferin in der Bio-Bäckerei. Ja! „Den Jakobsweg?“ Wir schauen uns kurz schweigend an und lachen dann laut. „Nee, ganz so weit laufen wir heute nicht.“ Auch wenn wir in der Tat so ausschauen, als wir bepackt mit Rucksack, Schlafsack, Biwaksack, Isomatte, Trinkflaschen, Gaskochern, Weinflaschen, Lebensmitteltüten und Kameras frisches Baguette fürs Abendessen kaufen. Wir sind unterwegs zu einer „wilden Sache“, wie es eine Freundin tags zuvor bezeichnet hatte, als sie von den Plänen erfuhr: einer Nacht im Wald. Wir wollen im Schlafsack unter freiem Himmel der Nachtkälte im April trotzen.

Gerade können wir, Kollegin Zepp, Kollegin Echternach und ich, es noch nicht so recht glauben, dass wir Alastair Humphreys Ermutigungsreden wirklich folgen und auf ein Microadventure gehen. Die Nacht zuvor haben wir angesichts der Wettervorhersage (Tiefsttemperaturen von einem Grad, immerhin trocken) und der Aussicht, am Folgetag des Abenteuers arbeiten zu müssen, unruhig geschlafen und wirr geträumt. Doch hier sind wir, mit schwerem Gepäck auf dem Weg zur Bahn, die uns – mit Umstieg in den Bus – aus Bonn in den Wald bringen wird.

Ungewaschen ins Büro?!

Einige Kollegen riefen bei der Ankündigung unseres Kurzabenteuers auf der Redaktionskonferenz spontan aus: „Oh, da wäre ich gern dabei!“ Der Lebensabschnittsgefährte sitzt gerade neidisch zuhause und macht statt Abenteuer seine Steuererklärung. Doch ebenso viele Freunde und Kollegen reagierten ungläubig. „Ihr wollt morgens ungewaschen wieder ins Büro?!“ „Wie, draußen im Wald schlafen? Ohne Toilette?!“ „Haha, schlaft ihr mal in euren Schlafsäcken auf dem kalten Boden, wir quartieren uns nebendran im Luxushotel ein.“ 

Na ja, wir lagern Wechselkleidung im Büro, und fließend Wasser gibt es dort auch. Öh, ja, ohne Toilette. Mal auf einer Wanderung oder einem Festival gewesen? Und was den Luxus angeht: Wir werden in den kommenden zwölf Stunden erfahren, wie privilegiert wir sind.

Kurze Orientierung an der Haltestelle im Wald, an der der Bus nur uns drei Fahrgäste ausspuckt. Ab hier liegen zweieinhalb Kilometer zwischen uns und unserem Schlafplatz, den Kollegin Echternach bei einer Wanderung entdeckt hat. Eher ein Spaziergang, der Jakobsweg ist jedenfalls länger. Doch wir schleppen immerhin unsere Überlebensausrüstung mit.

Küche, Wohn- und Schlafzimmer

Ein Plateau, beschienen von der Abendsonne. Schroffe Felsen auf der einen Seite, Blick übers Flusstal auf der anderen. Eine Feuerstelle und eine Lichtung. Der perfekte Platz. Wir sind entspannt, der Bürotag liegt schon jetzt weit hinter uns. In die Sonne setzen, ins Tal schauen, Kaffee kochen und Kekse essen sind unsere nächsten „To-dos“.

Wir warten, bis die letzten Sonnenuntergangs-Bewunderer und Hunde-Gassi-Geher zu Fuß oder mit dem Fahrrad unser temporäres Heim unter freiem Himmel verlassen haben. Dann richten wir uns ein. Das Plateau, auf dem zwei Bänke stehen, wird unser Wohnzimmer. Auf der Lichtung breiten wir die Schlafsäcke für die Nacht aus. Und an der Feuerstelle entsteht unsere Küche: Auf den Steinen lagern nun Kocher, Campingtöpfe, Tassen und die frischen Lebensmittel, die wir auf dem Hinweg gekauft haben.

Luxus Nummer eins: die Stille. Wir hören die Hummeln in den Baumblüten summen und die Spechte in die Stämme hämmern. Kollegin Echternach entfacht das Feuer. Wärme! Nach Sonnenuntergang wird es schnell kühl, wichtig ist es deshalb, rechtzeitig neue Kleidungsschichten überzustreifen. Vier Zwiebelhäute trage ich bereits, zwei weitere warten im Rucksack. Wer einmal draußen auskühlt, dem wird nicht so schnell wieder warm. Ein Flugzeug zieht über den Himmel. Leute, fliegt ihr nur nach Mallorca! Hier ist es viel schöner.

Zweiter Luxus: das auf dem Feuer gekochte Kichererbsen-Tomaten-Karotten-Ragout von Kollegin Zepp. Sie überlässt nichts dem Zufall und hat sogar Chilischoten und Lorbeerblätter im Döschen transportiert. Essen dürfen wir erst, wenn Hobbyköchin Zepp das Gericht für ausreichend durchgeköchelt befunden hat. Bis dahin grillen wir Würstchen am Stock, trinken Rot- und Weißwein, essen frisches Baguette und lauschen dem beruhigenden Brodeln aus dem Topf. Das leichte Räucheraroma verwandelt das Ragout in eine Deluxe-Mahlzeit.

Der Vollmond ist aufgegangen und macht unsere Stirnlampen fast überflüssig. Er taucht die zerklüfteten Felsen vor uns in ein weiß-silbriges Licht. Der Große Wagen zeigt sich. Wir fragen uns, wie die Nacht wohl wird – sind wir ausreichend gerüstet mit unseren Kleidungsschichten, Daunenschlafsäcken und Biwakhüllen? Als wir gegen elf, halb zwölf in unsere Schlafsäcke kriechen, werfe ich schnell noch drei Gel-Wärmekissen ans Fußende. Ich trage nun alle sechs Kleidungsschichten, sie halten mich bis zum nächsten Morgen warm. Keine von uns wird in der Nacht frieren.

Morgensport mit Flussblick

Luxus Nummer drei: einschlafen mit Blick auf die Sterne, die durch die Baumkronen blinken. Luxus Nummer vier: zum Sonnenaufgang aufwachen mit klarer Luft in der Nase und auf dem Gesicht. Args, jetzt rauswühlen aus dem warmen Schlafsack in den vier Grad kühlen Morgen. Okay, es ist gar nicht so schwer – und Luxus Nummer fünf entschädigt zusätzlich: frisch gekochten Kaffee auf einem Felsen trinken, während die Sonne emporsteigt. Morgensport mit Blick über das Flusstal lockert die Muskeln, die während der Nacht auf der Isomatte etwas gelitten haben.

Durch den sonnengefluteten, vogelbezwitscherten Wald machen wir uns auf den Rückweg zur Bushaltestelle. Dort müssen wir etwa 25 Minuten warten – doch neben uns plätschert ein Bach und wir tanken Tageslicht, bevor uns der Computerbildschirm wieder ins Gesicht leuchtet.

Das Schlafen im Freien hat eine Energie freigesetzt, die mich an einem normalen Alltagsmorgen selten überkommt. Meinen beiden Kolleginnen geht es ebenso. Wir brauchen keinen Jakobsweg, um uns inspirieren zu lassen.

Kirsten Lange

Das Rezept des Kichererbsen-Tomaten-Karotten-Ragouts gibt es unter fressenundgefressenwerden.de.

fairkehr 5/2023