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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Editorial 3/2016

Im Sitzen kann man nicht schlafen

Foto: Marcus GlogerMichael Adler, Chefredakteur

Ich bin kein hoffnungsloser Romantiker. Und auch kein Bahn-Nostalgiker. Ich will auch nicht die verrotteten Nachtzüge der Deutschen Bahn retten. Ich möchte ein modernes Nachtzugkonzept der DB AG und aller europäischen Partnerbahnen. Ich sehe die europäischen Eisenbahnen in der Verantwortung, klimaschonende Mobilität anzubieten. Und ich sehe die Nachtzüge als große wirtschaftliche Chancen für die Bahnunternehmen.

Nicht nur mit schnellen ICE-Verbindungen über Tag lässt sich den Fluglinien auf innereuropäischen Strecken Marktanteile abjagen – auch mit einem hochwertigen, an Kundenbedürfnissen ausgerichteten Nachtzug-Angebot kann man klimaschädliche Flüge vermeiden.

Zwei Zielgruppen drängen sich geradezu auf: Geschäftsleute, die keine Reisezeit am Tag vergeuden wollen, und Urlauber mit Zeit und Erlebnisanspruch. Für beide braucht es einen gewissen Komfort. Geschäftsreisende wollen ausgeschlafen und frisch geduscht ankommen. Einzelabteile mit Dusche, ein Frühstück im Stil des Ankunftslandes und hilfsbereite Zugbegleiter wären meine Empfehlungen. Dafür bin ich auch bereit, den Preis eines Hotels zu bezahlen. Für Urlauber braucht es das Abteil für Familien, das Double für Paare und Einzelabteile, aber auch gern Liegesitzwaggons für Low-Budget-Reisende. Ein Speisewagen mit Bar ist unverzichtbar.

Schnelligkeit ist beim Nachtzug nicht oberstes Gebot. Die Fahrtzeit sollte den Schlafrhythmus eines normalen Menschen berücksichtigen. Abfahrt zwischen 20 und 24 Uhr und Ankunft zwischen 7 und 10 Uhr morgens sind optimal – auch wenn die Fahrt nur von Hamburg nach München führt. Doch was macht die Deutsche Bahn? Sie investiert seit über zehn Jahren nicht mehr in die Nachtzugsparte. Die Wagen sind teilweise 40 Jahre alt und werden auf Verschleiß gefahren. Das Streckennetz ist ausgedünnt, das Angebot im Speisewagen auf Plastiksalami und Erdnüsse reduziert. Trotz dieser prohibitiven
Verkaufstaktik fuhren jedes Jahr noch 1,5 Millionen Menschen mit Nachtzügen.

Zum Jahreswechsel stellt die DB die Nachtzüge ein, weil die angeblich unrentabel sind. Die „Wirtschaftswoche“ kommentiert treffend: „Das ist so, wie wenn ein Supermarkt ständig verschimmelte Erdbeeren anbietet, auf ihnen sitzenbleibt und am Ende beleidigt feststellt: Erdbeeren sind offenbar out. Wir nehmen sie aus dem Sortiment.“ Eine Marke lebt von den Geschichten, die die Kunden erzählen. Die Nachtzüge sind voller Geschichten. Das Sprachengewirr im Speisewagen von Köln nach Kopenhagen, vorbei. Die Freude meiner Kinder, wenn wir unser Abteil von München nach Venedig eingerichtet haben, der Wechsel des Ausblicks, wenn man nachts die Jalousie einen Spalt hochzieht, vorbei. Jetzt will die Bahn Nacht-ICE und Nachtbusse fahren lassen. Aber im Sitzen kann man nicht schlafen. Rettung naht: Die Österreichischen Bundesbahnen ÖBB wollen einen Teil des deutschen Nachtzugangebots übernehmen. Der Nachbar der DB erwirtschaftet immerhin 17 Prozent seines Fernverkehrsumsatzes über Nachtzüge, Tendenz zuletzt um vier Prozent pro Jahr steigend. Und, lieber Herr Grube, der ÖBB-Chef Christian Kern, der diese Strategie zu verantworten hat, ist gerade befördert worden – zum Bundeskanzler.

Michael Adler

fairkehr 5/2023