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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Service 2/2016

Was bringen Schrittzähler?

Der Markt für digitale Fitnessbänder boomt und die Krankenkassen wittern ihren Vorteil.

Foto: istockphoto.com/OJO_images

Sieht aus wie eins dieser gefälschten Vorher-nachher-Bilder aus der Werbung für fiese Schlankheitsbreie: Zwei Männerköpfe, einer ist rund und dick, etwas aufgedunsen, der andere scheint zu einem Fall von männlicher Magersucht zu gehören. Beide Bilder zeigen denselben Mann, einmal mit 90, einmal mit 60 Kilogramm Körpergewicht. Früher Couch-Potato, heute Marathonläufer. Typischer Fall von Photoshop!

Falsch. Jochen Meyer, der Mann auf den Fotos, hat tatsächlich binnen zweier Jahre ein Drittel seines Gewichts verloren. Und was ist sein Erfolgsgeheimnis? Lässig zieht er eine kleine schwarze Kapsel in der Größe eines USB-Sticks aus der Jeanstasche – einen Schrittzähler. Um dann sofort jede aufkeimende Hoffnung aller Korpulenten zu ersticken: „Durch den Kauf eines Activity-Trackers allein erhöht niemand die Anzahl seiner täglichen Schritte“, sagt er. „Dass man durch den Tracker fitter wird, ist ein reines Werbeversprechen.“

Meyer benutzt seit langem Geräte, die ihm Daten über seinen Körper liefern. Waagen, Sensoren im Bett, intelligente Uhren, Activity-Tracker, Schrittzähler. Er kennt seinen Körper besser als jeder Doktor. Wann er vor zwei Jahren einen Gewichtsausrutscher nach oben hatte, weiß er, und auch, in welchen Nächten ihn Schlafstörungen plagten. Er kann an bunten Grafiken ablesen, wie oft das Wetter zu schlecht war, um zu joggen. Meyer ist der moderne Typus des Selbstvermessers.

Und er ist Wissenschaftler. Er befasst sich auch beruflich mit der Vermessung des Körpers. Der Informatiker leitet den Bereich Gesundheit am Oldenburger Institut für Informatik (OFFIS), wo er sich vor allem mit sogenannten Wearables beschäftigt, also tragbaren Computern wie zum Beispiel diese gerade überaus beliebten Aktivitätsüberwacher. Und als kritischer Wissenschaftler muss er alle enttäuschen, die gern an einen kausalen Zusammenhang zwischen der Selbstvermessung und dem Körpergewicht glauben würden.

Es wäre ja auch zu schön gewesen. Schrittzähler für alle – und um die Volksgesundheit müsste sich niemand mehr Sorgen machen. Vor zehn Jahren fiel sogar die Bundesregierung auf diesen logischen Kurzschluss rein, als die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt Tausende von Schrittzählern namens „Mit mir wirst du fit“ verschenkte. „Der Kauf ändert noch nichts am Verhalten“, sagt Meyer. Fitter und schlanker werden wir nur durch Verhaltensänderung – und die ist bekanntlich furchtbar schwer.

Eins ist sicher: Die Geräte sind seit ein paar Jahren der Renner. Rund eine Million verkaufte Fitness-Tracker machten 2015 die Mehrheit der rund 1,7 Millionen in Deutschland verkauften Weara-bles aus. Und da waren es schon 80 Prozent mehr als 2014. Umfragen kommen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass bereits knapp jeder Dritte unter den Bundesbürgern über 14 einen Tracker hat. Weltweit wurden im vergangenen Jahr 78 Millionen Geräte gezählt. Und das, obwohl ein positiver Zusammenhang zwischen hochgerüsteter Selbstvermessung und Gesundheit bis jetzt noch nicht wissenschaftlich belegt werden konnte. Zwar gibt es genügend Beweise dafür, dass fleißiges Gehen gesund ist – 2000 Schritte zusätzlich am Tag senken das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um acht Prozent – doch ob die Technik uns wirklich mobilisiert, ist unklar.

Was also bedeutet der Hype der Selbstvermessungsgeräte? Ist das alles nur Beutelschneiderei einer Industrie, die uns die nächste Generation des Tamagotchi andient, Spielzeug also? Oder beobachten wir gerade einen globalen Trend mit politischen und sozialen Auswirkungen?

Publizistin Juli Zeh vermutet, es handele es sich bei der umfassenden Selbstvermessung um Vorboten einer Gesundheitsdiktatur. Droht dank eines löchrigen Datenschutzes der Zugriff der Krankenkassen und der Arbeitgeber auf unsere intimsten Körperdaten? Oder ist der Schrittzähler nur ein Hilfsmittel, um den inneren Schweinehund zu vertreiben, ein Werkzeug?

Die Gesundheits-Informatiker am OFFIS untersuchen zunächst, ob die Datensammelei im Zusammenhang mit der eigenen Gesundheit überhaupt einen Effekt hat. Bewirkt es etwas, wenn ich meine körperliche Aktivität kontrolliere? Wenn ich einen Tracker habe – benutze ich ihn? Immer? Manchmal? Wie lange? Daneben erforschen die Oldenburger, wie das Activity Tracking in der Medizin und in der Altenpflege genutzt werden kann.

Dabei ist das Interesse am Schrittzählen selbst eigentlich gar nicht neu. Seit jeher hat man sich damit im unbekannten Gelände orientiert. Automatisch geht das allerdings erst seit 1780, als der Schweizer Uhrmacher Abraham-Louis Perrelet zum ersten Mal die Erschütterungen, die ein Schritt im Körper auslöst, mechanisch zählen konnte und ein Pedometer baute.

Nachdem Forscher und Sportler sich damit beschäftigt haben – sowie Landwirte, die ihren Kühe Schrittzähler an die Beine banden, um das Vieh zu überwachen und Informationen über die bevorstehende Brunst zu bekommen – drängt das Schrittzählen jetzt massiv in die Fitness- und Gesundheitsszene. Der Klassiker ist der Fitbit-Tracker. Er wurde 2007 von einem Startup in Kalifornien entwickelt und war der erste kleine und coole Schrittzähler. Nike hatte schon vorher einen Sensor auf dem Markt, der war allerdings in die Laufschuhe eingebaut.

Vermessung am Handgelenk

Der Fitbit errechnet aus den Schritten die zurückgelegte Strecke und die verbrannten Kalorien. Er kann aus den Bewegungsdaten auf die Intensität der Aktivitäten und die Qualität des Nachtschlafs schließen. Das macht er mit einem dreidimensionalen Bewegungssensor. Die Daten reicht er zunächst über Bluetooth – an einen Computer oder ein Smartphone weiter. Von hier aus, das war damals neu, kann der Nutzer seine sportlichen Glanzleistungen – oder sein Versagen – mit anderen Mitgliedern der Fitness-Community vergleichen und besprechen. Der Fitbit Classic war übrigens bewusst so klein konstruiert, dass man ihn in jeder Hosentasche und am BH verstecken konnte. Diese Zurückhaltung ist heute, zehn Jahre später, passé: Nun trägt man entsprechende Geräte in Schockfarben am Handgelenk. Denn mittlerweile ist man stolz, der internationalen Bewegung des „Quantified Self“ anzugehören.

Während Schrittzähler meist wie Armbänder oder USB-Sticks aussehen, geht heute der Trend zur erweiterten Armbanduhr. „Smart Watches“ wie die Apple Watch informieren nicht nur über E-Mails oder Termine, sondern über Laufleistung und Pulsschlag. In den Pipelines der Hersteller findet man schon Geräte, die die Flüssigkeitsaufnahme messen, Apps, welche genau bestimmen, wie viele Kalorien die nächste Mahlzeit haben darf, integrierte Barometer, die endlich das Treppensteigen würdigen. Und selbstverständlich wird die Software immer kommunikativer, sie kann antreiben, quälen und loben.

Doch während die Hersteller schon über Sensoren nachdenken, die den Blutzuckergehalt erkennen, was nebenbei für Diabetiker ein gewaltiger Schritt nach vorn wäre, gibt es andererseits viel Kritik an der Qualität der gewonnenen Daten. Immer wieder liest man von Tests, in denen die Tracker massenhaft Schritte oder Pulsschläge unterschlagen – oder übertreiben. Wie gut sind die Geräte?

Jochen Meyer vom OFFIS weist darauf hin, dass es zwar einen deutlichen Unterschied zwischen körperlicher Aktivität und Schritten gebe. Meist aber, das belegen viele Studien, korrelieren die beiden doch ganz gut miteinander: Wer viel läuft, ist aktiver. Ein grundsätzliches Problem betrifft allerdings Radfahrer und Schwimmer: Hier spinnen die Schrittzähler. Sie zählen alles Mögliche, jedoch nicht die verbrauchte Energie.

10000 Schritte am Tag

Wissenschaftlich nicht zu belegen ist der von fast allen Schrittzählern als ideal angestrebte Wert von 10000 Schritten pro Tag. Danach gibt es einen „Pokal“, einen Belohnungsgong oder einen erfreuten Hinweis auf dem Display. Dabei ist nicht einmal die Herkunft der ominösen 10000 bekannt. Viele glauben – und die Hersteller geben das gern weiter –, die Zahl stamme von der Weltgesundheitsorganisation. Andere sagen, ein japanischer Hersteller von Schrittzählern habe sie sich ausgedacht. Vielleicht überlebt in der Zahl noch das erste Pedometer des Abraham-Louis Perrelet, das gar nicht mehr Schritte zählen konnte? Doch der Zahlenwert wird weltweit akzeptiert und scheint medizinisch einigermaßen tauglich zu sein. Im Schnitt machen wir am Tag etwa die Hälfte der Schritte. Ein Call-Center-Mitarbeiter kommt auf 1500, ein Verkäufer schafft 5000, und nur der Briefträger erreicht 15000 Schritte.

Was die Genauigkeit der Geräte anbelangt, unterscheiden sich die Erwartungen. Im medizinischen Bereich, etwa bei der Überwachung von Herzinfarktpatienten, kann ein fehlerhaftes Gerät fatale Folgen haben. In den USA läuft seit Monaten eine Debatte, die die Gesundheitsbehörde FDA angestoßen hat: Müssen gesundheitsbezogene Wearables und Apps eine medizinische Zulassung haben?

Wer weiß, wie lange eine Zertifizierung dauert und wie teuer sie ist, ahnt, wie nervös der Markt in den USA auf die Initiative der Behörde reagiert. Interessant ist, was der Informatiker Meyer in einer eigenen Studie festgestellt hat: Auch gesunde Freizeit-Nutzer wollen korrekte Zahlen. Sie fühlen sich betrogen, wenn sie fleißig waren und das Gerät es nicht honoriert. „Typischerweise wird der Benutzer nach zwei bis drei Wochen kritisch“, sagt Meyer. Wenn das Gerät ihn dann nervt, legt er es in die Schublade.

Die nächste Hürde kommt nach drei Monaten. Spätestens dann verlieren viele das Interesse. Leider ist das auch – so lehrt die Psychologie – der nötige Zeitraum, eine Verhaltensänderung auf Dauer stabil zu machen. Und genau darum geht es ja: um eine Veränderung im Lebensstil. Die gelingt nicht automatisch, wenn unterm Weihnachtsbaum ein Schrittzähler liegt.

Die Verschlankung von Jochen Meyer fing anders an: Die Verhaltensänderung war zuerst da. Der Doktor hatte ihm empfohlen, ein wenig abzunehmen. Ein Kilo würde schon helfen. Meyer nutzte aus, dass gerade Fastenzeit war. Er hörte einfach damit auf, abends noch mal an den Kühlschrank zu gehen. Nach einem Monat war er ein Kilogramm leichter. Ohne „große Kosten“, wie er empfand. Er machte ein Jahr so weiter – und zehn Kilo waren abgeschmolzen. Dann hatte er eine „sehr stressige Zeit“ – und in drei Monaten waren weitere 20 Kilogramm verschwunden. Seine Freunde schauten ihn besorgt an. Heute wiegt er 68 Kilo – Wohlfühlgewicht. Die technischen Hilfsmittel begleiteten sein Abnehmen.

Einerseits machten ihm als Informatiker die vielen Daten einfach Spaß. Andererseits beruhigten sie ihn und wiesen ihn frühzeitig auf unerwünschte Trends hin. Bestätigten ihn zwischendurch auch mal. „Abends ein kurzer Blick auf den Tracker – das reicht“, sagt Meyer. Am Anfang steht also die Verhaltensänderung. „Die Technik hilft nur, das geänderte Verhalten beizubehalten.“ Wer jedoch einmal angefangen hat, eine „persönliche Gesundheitsakte“ anzulegen, den begleiten die Messgeräte über Jahrzehnte.

Man ahnt, welche Datenmengen entstehen. Im selben Tempo vermehren sich die Interessenten an diesen Daten. Allen voran die Krankenkassen. In den USA bietet Oscar Insurance jedem Mitglied, das seinen Alltag tracken lässt, fürs Gehen eine Belohnung von bis zu 240 Dollar im Jahr: „Turn the couch potato into a walker.“ Wer mitmacht, kann zusätzlich Amazon-Geschenkgutscheine bekommen. Auch in Deutschland winken bei AOK Nordost und Techniker Krankenkasse geldwerte Vorteile dem, der seine Fitnessdaten zur Verfügung stellt.

Auf diese Weise verlieren die kleinen Apparate schnell ihre Unschuld. Versteht sich von selbst, dass sich Hacker dafür interessieren. Einer von ihnen zeigte neulich auf dem Mobile World Congress in Barcelona ein Fitness-Armband herum, das eine Million Schritte an einem Tag gezählt hatte – das entspricht einer Strecke von rund 700 Kilometern. Nebenbei wurde bekannt, dass das permanente Versenden von Bluetooth-Signalen das Erstellen von Bewegungsprofilen ermöglicht.

Sollten wir bei den hübschen bunten Armbändern, die eher an die Kennzeichnung der Bewohner eines All-inclusive-Hotels erinnern, womöglich besser an elektronische Fußfesseln denken? Die Autorin Juli Zeh jedenfalls wittert, dass unser solidarisches Gesundheitssystem in Gefahr sei, wenn demnächst alle solche Bänder trügen. Und es dann heißt: „Krank? Selber schuld!“ Auch wenn man Frau Zeh nicht ganz folgen möchte in ihren Sorgen: Der Übergang von der Selbstvermessung zur Fremdvermessung ist fließend. Zum Glück gibt es ein eindeutiges Zeichen dafür, ob wir schon in einer Gesundheitsdiktatur leben: Solange wir die Tracker ablegen und in der Schublade verschwinden lassen können, ist noch alles gut.

Burkhard Strassmann

fairkehr 5/2023