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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 1/2016

„Amazon der Mobilität“

ÖPNV-Verbünde vor allem in Großstädten und Ballungsräumen werden zu Anbietern aller Mobilitätsformen. Das soll Kunden an Bus und Bahn binden und hilft beim autofreien Leben.

Foto: Cambio/Uni Bonn/Volker LannertBesonders für junge Menschen in Städten wird Carsharing immer attraktiver.
Foto: CambioNichts ist unmöglich: Wer von Bus und Bahn einfach ins (Elektro-)Carsharing-Fahrzeug umsteigen kann, braucht bald kein eigenes Auto mehr.

Hannover war seiner Zeit weit voraus. 2004 setzten das Verkehrsunternehmen üstra und der ÖPNV-Verbund Großraum-Verkehr Hannover GVH alles auf eine Karte: Mit dem Angebot Hannovermobil konnten Abokundinnen und -kunden für einen monatlichen Aufpreis von damals 6,95 Euro nicht nur Bus und Bahn fahren. Ihnen sollte „die ganze Welt der Mobilität“ offenstehen, so der Wunsch der Väter von Hannovermobil. Das bedeutete: eine Bahncard25 inklusive, Rabatte beim Carsharing, auf Mietwagen und Taxifahrten, Nachlass auf Serviceleistungen bei Fahrradhändlern und in Fahrradstationen, kostenlose Gepäckaufbewahrung und sogar Lebensmittel- und Getränkelieferungen ohne Zusatzkosten. Das Mobilitätspaket erhielt diverse Auszeichnungen, unter anderem den VCD-„König Kunde“-Preis 2005. Das Umweltbundesamt verlieh Hannovermobil als bundesweit erstem Angebot den „Blauen Engel für Mobilitätskarten“, weil es „nachhaltige, multimodale Mobilität ohne eigenen Fahrzeugbesitz“ ermöglicht.

„Im Nachhinein“, sagt Ulf Mattern, GVH-Geschäftsführer und einer der Hannovermobil-Väter, „haben wir jedoch erkannt, dass wir mit der ersten Version von Hannovermobil übers Ziel hinausgeschossen sind.“ Das Angebot sei unübersichtlich gewesen, Kunden hätten das Gefühl gehabt, für Leistungen zu bezahlen, die sie nicht in Anspruch nehmen. Das Resultat: Die Hannovermobil-Nutzerzahlen stagnierten bei etwa 1300. Deshalb besserten üstra und GVH vor etwa zwei Jahren nach: Die Version Hannovermobil 2.0 umfasst nun weniger Leistungen, dafür die wichtigsten für ein potenzielles Leben ohne Auto – eine Bahncard, günstige Tarife beim Carsharing und bei Mietwagenfirmen, 20 Prozent Rabatt auf Taxifahrten.
Der Start von Hannovermobil war Initialzündung für viele Verkehrsverbünde. „Wir haben bundesweit Interesse und Erwartungen geweckt“, sagt GVH-Chef Mattern.

Auto ist kein Feind des ÖPNV

Heute haben zumindest die Verkehrsverbünde in Großstädten und Ballungsgebieten erkannt, dass es nicht mehr zeitgemäß ist, ausschließlich Bus- und Bahnfahrten anzubieten. Sie müssen zum „Amazon der Mobilität“ werden, wie es Martin Röhrleef formuliert, Leiter für den Bereich Mobilitätsverbund bei der üstra und treibende Kraft hinter Hannovermobil. Gerade der ÖPNV brauche die Vernetzung mit anderen Verkehrsmitteln – und ein Angebot, das Automobilität ermögliche, ohne gleichzeitig zum Autofahren anzureizen. Geborene Partner dafür sind die Carsharing-Unternehmen vor Ort.

Kooperationen zwischen ÖPNV- und Carsharing-Anbietern sind kein neues Phänomen, die ersten Anfragen der Car-sharer an städtische Verkehrsunternehmen gab es bereits in den 90er Jahren. Doch durch die Änderung des Lebensstils besonders in den Städten, durch die Maxime des „Nutzens statt Besitzens“ und dank neuer digitaler Möglichkeiten habe die Intensität der Zusammenarbeit zugenommen, stellt Willi Loose fest, Chef des Bundesverbands CarSharing. ÖPNV-Apps informieren über ergänzende Verkehrsangebote und zeigen die Standorte von Carsharing-Autos an. Bus- und Bahnkunden können sich über die Verkehrsverbunds-Webseite fürs Carsharing anmelden oder mit ihrem elektronischen Aboticket öffentliche Leihfahrräder nutzen.

„Anschlussmobilität“ lautet das Stichwort. Den ÖPNV-Betreibern sind die Defizite ihres Systems durchaus bewusst: Nachts, sonn- und feiertags dünnt das Angebot merklich aus, auf manchen Strecken ist man mit Auto oder Fahrrad dreimal schneller am Ziel als mit Bus und Bahn, weil die Anschlüsse miserabel sind – und Möbel, Umzugskartons oder Wocheneinkäufe für die fünfköpfige Familie lassen sich nicht gut transportieren. Car- und Bikesharing-Angebote machen den ÖPNV flexibler, schneller und attraktiver.

Das Maximum an mobiler Wahl-Freiheit ist erreicht, wenn Kunden mit nur einer Karte oder einer App Zugriff auf Bus, Bahn, Carsharing und Leihfahrräder bekommen. Wie seit vergangenem Sommer beim Verkehrsverbund Rhein-Sieg VRS. Das VRS-e-Ticket ist nun ein Multi-Ticket. Mit diesem können Abokunden, Studententicket- und Jobticketinhaber Autos und Fahrräder mieten. Scouter- und Cambio-Fahrzeuge sowie die Leihräder der Kölner Verkehrsbetriebe gibts ohne monatliche Grundgebühr, Flinkster-Autos zum günstigeren Tarif. „Es war an der Zeit, dass wir das machen“, stellt VRS-Sprecher Holger Klein fest. Für den VRS ist das MultiTicket ein „Kundenbindungsinstrument, mit dem wir unser Abo attraktiv halten und immer wieder erweitern“, so Klein. Man sei im Gespräch mit weiteren Carsharing-Anbietern und Leihfahrrad-Firmen. Das Schubladendenken in den Verkehrsverbünden sei endgültig vorbei.

Ziel: Autobesitz hinterfragen

Die häufigste Form der Zusammenarbeit sind solche Sondertarife und Ermäßigungen für Bus- und Bahnabokunden beim Car- und Bikesharing. Der umgekehrte Fall – dass Carsharing-Kunden auf ÖPNV-Angebote Rabatte erhalten – kommt seltener vor, aber auch hier gehen einige Verbünde mit gutem Beispiel voran. Wer bei Cambio Aachen Kunde wird und gleichzeitig ein Jahresabo bei den Aachener Verkehrsbetrieben abschließt, darf vor dem Start des Abos einen Monat kostenlos im Verbundgebiet fahren. „Classic Tarif“-Kunden bei Stadtmobil Rhein-Neckar können über den Carsharing-Anbieter ein Jobticket für Bus und Bahn beziehen, auf das sie abends, feiertags und am Wochenende bis zu vier Leute mitnehmen können.

Die Carsharing-Unternehmen profitieren davon, dass die Verkehrsverbünde für die Kooperationsangebote Werbung machen. Auf die Frage, ob sich die Kooperationen für die Carsharing-Firmen wirtschaftlich lohnen, gibt es keine konkreten Antworten. Bettina Dannheim, Sprecherin von Cambio, will „das nicht unterstreichen“. Die Kooperationen seien Teil des Marketingkonzepts und vor allem der Unternehmensphilosophie: „Als nachhaltiges Unternehmen wollen wir den Umweltverbund fördern und Menschen motivieren, aufs Auto zu verzichten“, betont Dannheim. „Wir machen auch mal Angebote, die uns etwas kosten. Weil wir es richtig finden.“ Auch Stadtmobil Rhein-Neckar erklärt, dass finanzielle Aspekte nicht ausschlaggebend für das Jobticket-Angebot seien.

Je einfacher der Wechsel von Bus und Bahn aufs Leihfahrzeug wird, desto leichter ist ein Leben ohne eigenen Pkw. Loose vom Bundesverband CarSharing ist überzeugt, dass die Kooperationen dazu beitragen, dass immer mehr Menschen ihren Autobesitz hinterfragen. Er kritisiert allerdings, dass sich die Angebote oftmals ausschließlich an bereits überzeugte ÖPNV-Stammkunden richten und weniger an Gelegenheitsautofahrer.

Auch hier ist Hannover wieder Vorreiter. Das neue Hannovermobil kann jeder für 9,95 Euro buchen: ÖPNV-Abokunden, Wenignutzer und sogar Garnicht-Nutzer. Außerdem haben GVH und üstra etwas entwickelt, das einem „Amazon der Mobilität“ recht nah kommt. Wer sich kostenlos im „Mobilitätsshop“ registriert, macht sein Smartphone zur Mobilitätskarte für Carsharing und Taxifahrten, kann Nutzungsverträge gebündelt verwalten und erhält eine monatliche Mobilitätsrechnung mit den Kosten fürs Carsharing und Taxifahren.

Kirsten Lange

fairkehr 5/2023