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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2015

Bespielbare Stadt

Kinderfreundliche Städte bringen allen Bewohnern eine bessere Lebensqualität. Der emeritierte Professor Bernhard Meyer plädiert zudem für mehr Kinderbeteiligung. In der hessischen Stadt Griesheim hat er die erste bespielbare Stadt Deutschlands auf den Weg gebracht.

fairkehr: Was bedeutet es, wenn die Kindersicht bei Planungen im Mittelpunkt steht?

Bernhard Meyer: Die bespielbare Stadt sieht aus wie ein Kinderprojekt, ist aber in Wirklichkeit ein Erwachsenenprojekt. Erwachsene müssen zuerst lernen, dass sie die Wege der Kinder nicht aus ihrer jetzigen Erwachsenenrealität betrachten und beurteilen können. Die wichtigste Frage an Planerinnen und Planer lautet: Haben Sie die Bereitschaft, von Kindern zu lernen, wie diese die Welt wahrnehmen? Wenn die Antwort ja lautet, gilt es, die eigene Wahrnehmung zu ändern. Erforderlich ist ein Perspektivenwechsel, der den Blick der Kinder auf ihren Schulwegen und auf deren Spielorte als Realität in die Planungen einbezieht.

Wie sind Sie in Griesheim vorgegangen?
Wir haben Kinder aufgefordert, ihre Wegstrecken zur Schule und zum Spielen mit Kreide zu markieren. Dadurch haben wir begriffen, welches ihre Schulwege sind, wo und wie sie Straßen überqueren. Wir haben ebenfalls beobachtet, was die Blicke und Wege der Kinder dort anzieht. Das kann ein Gullideckel, ein Treppenaufgang oder eine niedrige Steinmauer sein. Sie sind wie in der Straße verbuddelte Magnete, die die Kinder anziehen oder abstoßen. Aber Achtung: Worauf Kindern reagieren, ist für uns Erwachsene nicht vorherseh- oder nachahmbar. Darum kann die bespielbare Stadt niemals ein Projekt vom Reißbrett, eine Idee von Landschaftsgärtnern und Städteplanern sein. Wichtig ist es, die Wahrnehmung der Kinder als Planungsvorgabe zu akzeptieren. Kinder sind viel aufmerksamer, wenn sie sich nicht gelangweilt, sondern lustvoll durch den Straßenverkehr bewegen.

Welche Ergebnisse liefern die Kinderbefragungen?
Die Rückmeldungen lassen sich in drei Qualitäten strukturieren. Das sind „erhalten, verändern, ergänzen“. Erhalten meint: „So, wie es ist, ist es gut.“ Für die Planung bedeutet das, die Finger von dem betreffenden Spiel- oder Wegeraum zu lassen, auch wenn es aus der fachlichen Sicht nicht gefällig oder optimal scheint. Die Qualität Verändern beinhaltet die Aussage: „So, wie es ist, macht es mir Angst oder ist es langweilig.“ Das ist die Aufforderung an die Verantwortlichen, Neuplanungen anzugehen. Bei den Ergebnissen sind dann die Kinder diejenigen, die den Daumen heben oder senken. Ergänzen heißt: „So, wie es ist, geht es, aber schöner wäre es, wenn dies oder das noch dazukäme.“ Oft wünschen sie sich Kleinigkeiten: einen zweiten Baum, der zusammen mit dem bereits vorhandenen ein Fußballtor ergibt. Oder Straßenschilder stehen ungünstig, weil sie die Sicht der Kinder auf den Straßenverkehr behindern.

Foto: privatBernhard Meyer, Professor für Sozialplanung, Gemeinwesenarbeit und Pädagogik beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit der Schaffung von Räumen für Kinder, Jugendliche, beeinträchtigte und ältere Menschen. Er propagiert deren Beteiligung an der Stadtentwicklung, leitete Projekte in Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg und veröffentlichte zahlreiche Texte zum Thema. Er lebt in Griesheim, ist selbst Vater und vierfacher Großvater.

Wo finden sich Kinderorte in Städten und wie werden sie vernetzt?
Kinderorte sind Schulen, Kindergärten, Spielplätze, Sportanlagen und Freiflächen wie Wiesen und Wälder. Viele dieser Flächen liegen an der Peripherie der Orte. Daher sind die Wege zu diesen Orten sehr wichtig. Die bespielbare Stadt vernetzt sie – macht wieder erreichbar, was bisher unerreichbar schien. Aber Kinder müssen auf den Wegen dorthin etwas erleben können. Wir haben vor allem an den etwas breiteren Straßenecken der Gehsteige „Wegbegleiter“ installiert, die zur Aktivität herausfordern. Selbst schmale Wege lassen sich relativ einfach umgestalten, indem sie beispielsweise mit Steinplatten oder Pflaster belegt sind. Wenn man diese Steine in unregelmäßigen Abständen anstreicht, schafft man Raum für Hüpf- oder andere Spiele. Solche Wege machen Spaß.

Warum benutzen Sie das Wort „Wegbegleiter“ statt Spielgeräte?
Bei einem typischen Spielgerät wie einer Rutsche ist vorgegeben, wie man damit spielt. Schon wer sie andersherum hochläuft, nutzt sie im Prinzip falsch. Wegbegleiter sind definitionsoffen. Das kann beispielsweise ein Findling sein, an dem sich angelehnt wird, auf den die Kinder klettern oder drumherum laufen können. Poller, die in unterschiedlichen Größen hintereinander angeordnet werden, verleiten zum Drüberhüpfen, Draufsetzen oder Balancieren. Solche Objekte machen einen langweiligen Weg interessant. Es sind Verhaltensangebote, die angenommen werden können, aber nicht müssen.

Bei den Wegführungen galt den Querungen von Straßen große Aufmerksamkeit.
Tatsächlich folgen Kinder beim Überqueren von Straßen nicht der Logik der Schulwegplanung von Erwachsenen. Wir haben die Kinder von bestimmten gefährlichen Überquerungspunkten regelrecht weggelockt. An weniger gefährlichen Stellen wurden Objekte im Straßenraum platziert, die die Kinder anziehen. Zum Beispiel eine Art Surfbrett zum Spielen. Außerdem haben wir den „Kleinen Griesheimer“ entwickelt. Das ist ein vor bestimmten Straßenübergängen in den Boden eingebrachtes Zeichen. Überall, wo er zu finden ist, wissen die Kinder, dass die Überquerung der Straße gut funktioniert. Bei der Verkehrserziehung im Kindergarten wird das Zeichen regelmäßig erklärt.

In Griesheim hat sich auch beim Autover- kehr einiges geändert?
Mit Ausnahme der Bundesstraße gilt für alle anderen Straßen der Stadt für Autos Tempo 30 und die Rechts-vor-links-Regelung an Kreuzungen. Zusammen mit der Gehweggestaltung und den besseren Querungspunkten hatte das den Effekt, dass es hier seit zehn Jahren keine Unfälle mit Kindern im Straßenverkehr mehr gegeben hat.

Ist die einmal durchgeführte Wegeplanung dann festgeschrieben?
Nein, sie ist eine dynamische Angelegenheit. In Städten kommen Neubaugebiete hinzu oder die Altersstruktur in bestehenden Wohngebieten ändert sich, weil wieder mehr Kinder dort wohnen. Darum müssen die Kinderwege alle drei bis vier Jahre mit einer erneuten Kinderaktion kartografiert werden. Wenn sich daraus ergibt, dass einige Wege anders verlaufen, werden die Spielobjekte angepasst. Die Erfahrung zeigt aber, dass das nur auf zwei Prozent der bespielbaren Plätze zutrifft.

Was kostete die Wandlung zur bespielbaren Stadt?
Das ganze Projekt hat rund 110000 Euro gekostet, so viel wie ein mittelgroßer, neu angelegter Spielplatz.

Wie profitieren auch Erwachsene von den neuen Wegen?
Berufstätige kennen Straßen heute nur als Wegstrecke, aber nie als Auszeitraum. Mit den Spielräumen geben wir allen Langsamen in der Stadt, wie beispielsweise Senioren, die Möglichkeit, sich auf den Gehwegen zu bewegen und Pausen zu machen.

Interview: Elke Hoffmann

fairkehr 5/2023