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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 3/2015

Urlaub in der Blase

Geld von Kreuzfahrttouristen muss auch in den Reiseländern ankommen, sagt Dirk Reiser von der Hochschule Rhein-Waal im fairkehr-Interview.

Foto: Attila Boa/FilmtankKeine Retusche sondern echt: Gigantisch große Kreuzfahrtschiffe fahren bis mitten hinein ins alte Venedig.

fairkehr: Können Kreuzfahrten nachhaltig sein?

Dirk Reiser: Wer eine Kreuzfahrt auf einem Segelschiff macht, kann umweltfreundlich unterwegs sein. Kreuzfahrten auf großen Schiffen, die mit Schweröl betrieben werden, können sicher nicht als nachhaltig bezeichnet werden.

Im letzten Jahr haben mehr als 21 Millionen Menschen eine Kreuzfahrt unternommen. Warum boomen diese Reisen so?

Die Schiffe sind fahrende All-inclusive-Hotels. Man wacht jedenTag an einem neuen Ort auf, hat immer alles dabei, alle Versorgung an Bord. Auch der Faktor Sicherheit spielt eine Rolle. Für die vielen älteren Passagiere haben die Schiffe komplette Krankenhäuser an Bord. Die Forschung verwendet den Begriff „environmentel bubble“: Kreuzschifffahrttouristen reisen in einer Blase, in der sie die gleichen Annehmlichkeiten vorfinden wie zuhause.

Heißt das, dass sich die Reisenden im Prinzip nicht auf das Reiseland einstellen?

Klar gibt es Vorträge an Bord, aber die Landgänge organisiert ein zum Unternehmen gehörendes Reisebüro. Die Busse stehen am Kai, fahren die Passagiere herum und bringen sie zurück zum Schiff. So bleibt auch die überwiegende Wertschöpfung an Bord. Die Schiffe kreieren ihre eigene Erlebniswelt mit Konzerten, Cafés, Fitnessstudios und Shopping Malls an Bord. Für die Destination bleibt da nicht mehr viel übrig.

Inwiefern?

Die lokale Bevölkerung wird von der Tourismusindustrie total übergangen, es geht nur um Profite. Die ökonomischen Gewinne, die für die oft kleinen Orte anfallen, sind sehr minimiert. Für den wenigen Konsum an Land, der sich oft auf irgendwelche Souveniers beschränkt, müssen die Orte eine große Infrastruktur bereithalten: die Hafenanlagen, Straßen zu Ausflugszielen usw. Dort kommt es zur Überlastung. Wenn mit einem Mal 2000 Leute in einen kleinen Ort einfallen, ist es plötzlich rappelvoll, da stehen Sie überall Schlange, beim Einkaufen, bei Besichtigungen.

Foto: privatProf. Dr. Dirk Reiser (49) lehrt Nachhaltiges Tourismusmanagement an der Hochschule Rhein-Waal.

Gibt es Destinationen, die sich gegen den Kreuzfahrtboom auflehnen?

Die meisten Häfen sind hochgradig vom Tourismus abhängig, können es sich also nicht erlauben, dass die Reedereien sie links liegen lassen.

Wie sieht es in Venedig aus?

Dort richten die Schiffe mit den Vibrationen der Motoren und den Wellen, die sie hinter sich herziehen, großen Schaden an. Sie unterspülen Gebäude, verursachen Risse und zerstören die Fundamente. Wenn die riesigen Schiffe durchfahren, wackeln die Wände. Deshalb hat man versucht, die Kreuzfahrtschiffe daran zu hindern, direkt im Zentrum anzulegen. Vergeblich, denn die Lobby des Hafens und der Kreuzfahrtgesellschaften stemmt sich mit aller Macht dagegen. Das kleine Venedig gehört zu den Top-Ten-Destinationen weltweit und muss mehr Kreuzfahrtschiffe abfertigen als New York. Außerdem decken die Einnahmen aus dem Tourismus längst nicht die Schäden. Venedig ist pleite. Die Stadt ist den Kreuzfahrern ausgeliefert.

Was kann man tun?

Der Massentourismus muss nachhaltiger werden. Kreuzfahrten sind ja nicht per se schlecht. Nur müssen die Destinationen damit umgehen können. Da hat Warnemünde in Deutschland sicher bessere Karten als der kleine Inselstaat St. Kitts und Nevis in der Karibik. Für mich ist im Tourismus wichtig, inwiefern die lokale Bevölkerung eingebunden wird und dass mehr Geld in die lokale Wertschöpfungskette fließt.

Kreuzfahrtschiffe fahren auch in geschützte Gebiete, zum Beispiel in die Antarktis.

Wenn wir über Nachhaltigkeit reden, ist der Zugang zu den Plätzen dieser Welt ein wichtiges Argument. Antarktisreisen sind begrenzt für eine sehr privilegierte Minderheit von Menschen. Außerdem: Wenn in dieser sensiblen Umwelt irgendwas passiert, ist das irreversibel. Öl baut sich in dem kalten Wasser so gut wie nicht ab, und wenn Kreuzfahrttouristen bei Landgängen auf eine Pflanze treten, braucht sie vielleicht 20 Jahre, um sich wieder zu erholen. Ich denke, wir sollten da nicht reingehen.

Wer entscheidet, was angeboten wird?

Die Frage ist: Wie übersetzt sich unser Umweltbewusstsein in Handeln? Wenn mit den Schwerölschiffen plötzlich niemand mehr fahren wollte, würden die Reiseunternehmen die Antriebsarten ihrer Schiffe überdenken. Wir verlangen, dass profitorientierte Firmen sich ändern, aber wir Verbraucher sind selbst nicht bereit, uns zu ändern. Wenn wir anfangen, nachhaltige Reisen nachzufragen, wird es diese Angebote in Zukunft auch geben.

Interview: Uta Linnert

Filmtipp Über tausend monströse Kreuzfahrtschiffe legen jedes Jahr in Venedig an und fahren dabei am San-Marco-Platz vorbei mitten durch die Stadt zum Hafen. Wenn die Passagiere an Land gehen, drängen sie sich mit den übrigen Menschenmassen durch Venedigs Straßen. Die Einheimischen ergreifen die Flucht und ziehen aufs Festland, weil sie sich Venedig nicht mehr leisten können. Der sehr sehenswerte Film zeigt, was vom venezianischen Leben übrig geblieben ist: eine Subkultur touristischer Dienstleister – und jedes Jahr weniger Einwohner. Wo bis vor wenigen Jahren noch normales Leben herrschte, entsteht jetzt vorwiegend touristische Infrastruktur im Diens­te des Massentourismus. Eine Stadt geht baden.

Das Venedig Prinzip. Dokumentarfilm von Andreas Pichler, D 2012, 82 min, OmU. Der Film ist als DVD erhältlich (good movies!/Real Fiction) und ab 24.8. auch als VoD, (Video auf Anforderung) zu sehen, u.a. bei iTunes.

fairkehr 5/2023