fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2015

Fernwandern

Einfach loswandern. Im eigenen Rhythmus unterwegs sein. Ohne Ablenkung. Wer zu Fuß unterwegs ist, lässt den Alltag schnell hinter sich. Orientierung und sportliche Betätigung lasten Körper und Geist aus. Mitten in der Natur, weit weg von Lärm, Verkehr und Hektik stellt sich tiefe Erholung ein.

Foto: Alastair Humphreys aus The Great Wide Open · © Gestalten 2015Erholung über Nacht: Die Beine sind zwar noch von der letzten Etappe müde, aber der Geist ist wach wie nie.

Wenn ich den Kopf weit in den Nacken lege, sehe ich Theresa hoch oben auf dem Kamm entlangturnen. Ihre schmale Silhouette zeichnet sich dunkel gegen den strahlend blauen Sommerhimmel ab. Trotz Rucksack springt sie leichtfüßig von Stein zu Stein. Als sie sieht, dass ich zu ihr hoch schaue, bleibt sie stehen und winkt.

Theresa und ihr Begleiter Fabian gehören zu den wenigen Wanderern, die während dieser Spätsommertage denselben Weg gewählt haben. Die Münchner Studenten sind halb so alt und doppelt so fit wie wir. Sie sind bereits seit zwei Wochen auf dem Europäischen Fernwanderweg von München nach Bozen unterwegs und legen auch schon mal zwei Tagesetappen zu einer zusammen, wenn es ihnen an Herausforderung fehlt.

Wir haben uns erst vor vier Tagen in Mayrhofen auf den Weg gemacht. Es könnten aber auch Wochen oder Monate sein. Der Alltag? Ganz weit weg. Dabei ist – genau genommen – nicht viel passiert. Jeden Tag Aufstehen im Morgengrauen, Schlafsack und Zahnbürste im Rucksack verstauen, frühstücken, Schuhe an, Rucksack auf und los. Und dann den ganzen Tag den rot-weißen Markierungen folgen, immer konzentriert, berg­auf und bergab, über Schiefer, Schotter, Granit.

Keine Urlaubsform führt so schnell zur Tiefenentspannung wie eine Fernwanderung. Am ersten Tag kämpft der Körper mit der ungewohnten Anstrengung. Der Rucksack sitzt noch nicht optimal. Die Muskeln ächzen beim Bergaufgehen unter dem zusätzlichen Gewicht. Füße und Schuhe müssen sich erst aneinander gewöhnen. Aber statt wie zuhause um Mitternacht schlafen zu gehen, treiben frische Luft, Erschöpfung und Hüttenruhe die Wanderer schon früh am Abend ins Lager. Acht bis zehn Stunden Schlaf kommen da schnell zusammen. Am Morgen sind dann zwar die Beine noch müde. Aber im Rest des Körpers – vor allem im Kopf – breitet sich tiefe Entspannung aus.

Wo gehen wir heute lang? Wo bekommen wir etwas zu essen? Wo werden wir schlafen? – Das sind die großen Fragen, die den Geist beschäftigen, während der Körper ganz damit ausgelastet ist, Fuß vor Fuß zu setzen, nicht zu kippeln oder zu stolpern und immer weiter voranzukommen.

Alpenüberquerung zu Fuß

Eine Woche haben wir uns Zeit genommen. Vom österreichischen Mayrhofen wollen wir bis nach Bozen in Südtirol – eine Alpenüberquerung zu Fuß. Den Hauptkamm, auf dem die Grenze zwischen Österreich und Italien verläuft, haben wir am Vortag bereits hinter uns gelassen. Die raue, von Gletschern geformte steingraue Landschaft verlangt uns mental und sportlich einiges ab. Trotz grandioser Fernsicht freue ich mich auf die nächste Etappe in den grünen Sarntaler Alpen.

„Obenlang“, hatte Sabine, Hüttenwirtin auf der Flaggerschartenhütte, an diesem Morgen empfohlen. Man habe so die bessere Aussicht und spare sich den Abstieg ins Tal. Schwindelfrei müsse man natürlich schon sein. „Untenlang“ heißt das für mich, denn so sehr ich die Berge liebe – zu viel Leere unter mir kann ich schlecht ertragen. Nun beneide ich Theresa, die so furchtlos am Abgrund entlangbalanciert. Aber auch die Variante für Nicht-Schwindelfreie ist alles andere als langweilig. Wir müssen zwar mehr Höhenmeter überwinden, dafür verlocken immer wieder sanfte Almwiesen zu ausgedehnten Pausen. Schuhe ausziehen, Beine hochlegen und das Gesicht in die Herbstsonne halten: Schöner kann Wellness nicht sein.

Bevor wir allerdings bei Sonnenuntergang auf der Terrasse der Latzfonserkreuz-Hütte mit dem schönsten Dolomi-tenblick der Alpen belohnt werden, geht es noch einmal heftig bergauf. Die Muskeln schmerzen, der Atem wird knapp und der Rucksack drückt auf den Schultern. In solchen Momenten frage ich mich dann schon, warum ich mir das antue mit dem Wandern und dem ganzen Gepäck. Aber sobald ich es geschafft habe und sich hinter dem Kamm eine ganz neue Welt auftut, siegt die Euphorie. Nichts kann mithalten mit diesem Gefühl.

Regine Gwinner

fairkehr 5/2023