fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 1/2015

Aus für den Nachtzug

Fotos: photocase.de/esserfredIn Zeiten der Hochgeschwindigkeitsverbindungen ist kein Platz mehr für den eher langsamen Nachtverkehr.

Zum Fahrplanwechsel hat die Deutsche Bahn AG einen Teil des ­sowieso schon reduzierten Nachtzugnetzes gestrichen. Damit ist das Sterben des Nachtzugverkehrs in der bisher existierenden Form programmiert. Traurig, findet ­fairkehr-Autorin Regine Gwinner, die viele schöne Erinnerungen mit dem ­Reisen durch die Nacht verbindet. Höchste Zeit, meint Verkehrswissenschaftler Thomas Sauter-Servaes, der auf eine Modernisierung des Systems und eine marktfähige Lösung für den Nachtzugverkehr hofft.

Fotos: photocase.de/HerrSpecht (o.) · privat (4)2012: München-Venedig, ­allein auf dem Markusplatz

Im Münchner Hauptbahnhof an der Nordseite befindet sich das Restaurant „Mongdratzerl”. Hier gibt es bayerische Spezialitäten und bayerisches Bier und einen souveränen Oberkellner, der einen auch mal zwei Stunden in Ruhe lässt. Die meisten Gäste sind Touristen aus aller Welt, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Weißwurst und einen Krug Bier bestellen. Im Fernsehen läuft Fußball. Da viele Nachtzugverbindungen, die früher von Norden nach Süden einmal ganz Europa querten, heute das Umsteigen in München erfordern, sitze ich immer öfter im „Mongdratzerl”. Auf dem Weg von und nach Bozen, Wien, Florenz, Rom oder Korsika überbrücke ich hier die Zeit, bis der Nachtzug bereitgestellt wird, trinke Münchner Bier und esse „Bayerische Tapas”, eine Spezialität des Hauses.

2010: Köln-Paris, von dort per Nachtzug nach Irun

Aber vielleicht gehört auch das nächtliche Warten in München bald der Vergangenheit an, denn die Deutsche Bahn AG hat zum Fahrplanwechsel weitere Nachtzugverbindungen gestrichen. Während man noch in den 90er Jahren davon ausgehen konnte, jede Metropole in Europa mit dem Nachtzug erreichen zu können, muss man heute schon gezielt suchen, wo überhaupt noch Nachtverbindungen existieren. Die Möglichkeit, die Nacht als Reisezeit zu nutzen und damit auch ferne Ziele „im Schlaf“ zu erreichen, ist zur Ausnahme geworden.

2004: Straßburg-Nizza, dann per Fähre nach Korsika

Für die große Mehrzahl der Reisenden ist dies gar kein Verlust. Denn sie haben den Vorteil, den der Nachtzug bietet, sowieso nie verstanden. Statt sich nach einem guten Abendessen gemütlich mit einem Fläschchen Rotwein in den Zug zu setzen und morgens mit Blick aufs Mittelmeer aufzuwachen, verbringen sie Stunden in zugigen Flughafenhallen, in denen es nichts Vernünftiges zu essen gibt und die Flasche Wasser für neun Euro verkauft wird. Dann fliegen sie in Höchstgeschwindigkeit an den Zielflughafen und beten, dass ihr Gepäck ebenfalls dort ankommt. Tut es das nicht, opfern sie weitere Stunden ihres Urlaubs der Gepäckrückgewinnung. Oder sie zahlen das Doppelte des Flugpreises, um per Taxi vom Flughafen, der irgendwo im touristischen Niemandsland liegt, dahin zu kommen, wo der Nachtzug mit einem sanften Ruck am Morgen nach der Reise zum Stehen kommt: im Stadtzentrum.

2011: Bonn-Zürich, von dort zum Wandern nach Ligurien

Zugegeben: Ein paar Unbe-quemlichkeiten gibt es im Nachtzug auch. Das Wagenmaterial ist veraltet, der Komfort hält sich in Grenzen, die Nachtruhe wird vom Rumpeln, Rattern oder auch mal von lauten Durchsagen unterbrochen.

Aber dennoch überwiegen die Vorteile: Für meine Familie begann der Urlaub viele Jahre mit dem Einsteigen in den Nachtzug. Egal, wohin es ging: Die Fahrt mit dem Nachtzug zum ersten Zwischenstopp im Ausland war obligatorisch. Abends einsteigen, Gepäck verstauen, die Tür des Liegewagenabteils schließen. Dann war Urlaub. Die Kinder probierten alle Liegen aus, die Eltern entkorkten eine Flasche Wein. Dann wurde gelesen oder gespielt, bis allen die Augen zufielen. Und wenn wir am nächsten Morgen aufwachten, waren die Bahnhofsschilder in fremden Sprachen beschriftet oder wir konnten das Meer sehen. Die inzwischen 17-jährige Tochter sagte vor dem letzten gemeinsamen Urlaub: „Wenn wir mit dem Nachtzug fahren, komme ich nochmal mit.”

2005: Bonn-Rom, von dort nach Neapel und Stromboli

Mag sein, dass es nostalgisch und altmodisch ist, einem Verkehrsmittel nachzuweinen, das nicht 300 km/h fahren kann. Aber ist es nicht umgekehrt auch fahrlässig, ein Verkehrssystem stillzulegen, das sich seit vielen Jahrzehnten bewährt hat? Der Nachtzug fuhr kreuz und quer durch Europa, längst bevor es Lokomotiven gab, die 27 unterschiedliche Strom- und Kommunikationssysteme im Maschinenraum haben. Dann stand er eben eine Stunde am Brenner, während die Lok getauscht wurde. Danach ging es zuverlässig weiter und morgens gab es den ersten Caffè Latte in Florenz.

Regine Gwinner

fairkehr 5/2023