fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2014

Herausforderung des Alters

Gefangen in der Autoabhängigkeit steuern die Babyboomer auf die Rente zu.

Foto: Marcus GlogerUnterwegs mit der Generation 60+: Ob mit dem Fahrrad, der Bahn oder dem eigenen Pkw: Ältere Menschen sind so mobil wie nie – und ebenso vielfältig. fairkehr schaut in den Alltag von ­Vertretern einer Generation, die schon jetzt unsere­ ­Gesellschaft prägt.

E rna Z. lebt in einem 300-Einwohner-Dorf in Schleswig-Holstein. Nun hat sie ihren Finger gebrochen. Nichts Dramatisches eigentlich, doch ihr Auto kann die Mittachtzigerin ein paar Wochen lang nicht fahren. Auch das Rad muss im Schuppen bleiben. Der nächste Lebensmittelladen ist acht Kilometer entfernt. Ihre Nachbarn mag sie nicht fragen, und so ist sie darauf angewiesen, dass ihre Kinder helfen. Ein Sohn hat die Busverbindungen herausgesucht: Sie müsste morgens früh mit den Schulkindern los und könnte erst nach einem vierstündigen Aufenthalt den Rückweg antreten. Weil Erna Z. nur eine kleine Rente bezieht, kommt Taxifahren für sie nicht in Frage. Sie ist beunruhigt: Was, wenn sie irgendwann gar nicht mehr Auto fahren kann? Plötzlich erscheint die Freiheit gefährdet, die sie bisher immer mit dem Leben auf dem Land verbunden hat und deretwegen sie einst aus Hamburg hierher gezogen ist.

Der Lebensweg ihrer Altersgenossin Rita B. führte in die entgegengesetzte Richtung. Als sie ihre Praxis vor 15 Jahren in einer norddeutschen Kleinstadt aufgab, entschloss sie sich, künftig im Zentrum von Hamburg zu leben. Sie verkaufte ihr Auto und ist seither am liebsten zu Fuß unterwegs. Aber auch Bus, U- und S-Bahn nutzt sie regelmäßig; die Stationen sind nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Deren Lage hat sie bewusst danach ausgesucht, ihre Autonomie möglichst lange zu erhalten. Schließlich geht sie gerne abends aus.

Während hochbetagte Frauen überwiegend ohne motorisiertes Gefährt durchs Leben gingen, haben die meisten jüngeren Seniorinnen Zugang zu einem Auto. Für fast alle Männer ist das schon länger so: Anfang der 1970er Jahre ka­men in Deutschland auf 1000 Einwohner etwa 250 Autos – und selbstverständlich saß zu Beginn der Massenmobilisierung in der vierköpfigen Idealfamilie fast immer Vati hinterm Steuer. War der damals Mitte 20, so feiert er jetzt irgendwann seinen 70. Geburtstag. Später kamen dann oft Zweit- oder sogar Drittwagen dazu. Inzwischen sind 36 Prozent der Autos von Frauen angemeldet.

Leben ohne Auto

Ein Leben ohne Auto ist für einen Großteil der jungen Alten kaum vorstellbar: Ihren gesamten Alltag haben sie jahrzehntelang selbstverständlich darauf aufgebaut, dass der eigene Wagen in der Garage oder vor der Tür stand. Viele zogen aus den Innenstädten ins Grüne – und der Staat förderte durch Straßenbau und Eigenheimzulage die Zersiedelung nach Kräften. So wurden die Speckgürtel rund um die Großstädte immer breiter, während der öffentliche Nahverkehr mit zunehmender Autodichte immer weiter ausdünnte. Zugleich schwanden die Einkaufsmöglichkeiten im ländlichen Raum: Weil die Mehrheit mit dem Auto zu den billigen Großsupermärkten fuhr, war Tante Emma nicht mehr konkurrenzfähig – was den Autobesitz umso notwendiger erscheinen ließ. „Das alles hat sich gegenseitig hochgeschaukelt. Die Frage, ob erst Auto oder Siedlungsstruktur da war, entspricht der Frage nach Henne und Ei“, sagt die Soziologin und Gerontologin Heidrun Mollenkopf aus Heidelberg, Expertin für die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO). Klar ist jedenfalls, dass heute für fast alle Landbewohner ihr gesamter Lebensstil davon abhängt, auf vier Rädern unterwegs sein zu können.

Zugleich erfüllt der eigene Wagen in dieser Generation eine zentrale Identitätsfunktion. Während der Aspekt der Selbstdarstellung durch ein Auto für junge Leute zunehmend unwichtiger wird, verbinden vor allem die männlichen Senioren mit dem Stern oder Jaguar auf der Kühlerhaube einen Distinktionsgewinn. Das eigene Auto ist für diese Generation weit mehr als ein Transportmittel – und tatsächlich besitzen über die Hälfte der 70- bis 79-Jährigen einen Pkw, bei den über 80-Jährigen sind es immerhin auch noch mehr als ein Viertel. Absehbar ist, dass die Zahl der autofahrenden Alten weiter steigen wird, denn demnächst steuern die Babyboomer aufs Rentenalter zu. Während gegenwärtig etwa 20 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre ist, werden es 2030 bereits knapp 30 Prozent sein.

Rechtzeitig aufs Alter einstellen

Doch klar ist auch, dass für viele irgendwann Schluss sein wird mit dem Selbstfahren. Sich rechtzeitig darauf einzustellen, ist entscheidend für die eigene Lebensqualität. Denn kaum etwas ist für ältere Leute so entscheidend fürs Wohlbefinden wie die Fähigkeit, allein auch außerhalb der Wohnung unterwegs sein zu können. Das hat Heidrun Mollenkopf in einer Langzeituntersuchung in Mannheim herausgefunden. Erstaunt stellte sie außerdem fest, dass die Lebenszufriedenheit ihrer Interviewpartner innerhalb von zehn Jahren kaum zurückging, obwohl ihre körperlichen Fähigkeiten nachließen. Bei denjenigen, die anders als viele Altersgenossen noch ohne Rollator oder Rollstuhl unterwegs sein konnten, hatte sich die Zufriedenheit sogar erhöht, nach dem Motto: „Mir geht es ja noch gut.“ Sich irgendwann eingestehen zu müssen, dass es ohne Hilfsgeräte nicht mehr läuft, ist für viele eine große Hürde. Ist die aber erst einmal genommen, fühlen sich viele wieder freier. Der bundesweite Verein Verkehrswacht, in dem sich 60000 Mitglieder ehrenamtlich für sicheres Verhalten im Straßenverkehr engagieren, unterstützt Senioren dabei, zu lernen, wie man mit dem Rollator gut eine Bordsteinkante hinaufkommt oder in einen Bus einsteigt.

„Für Leute, die ihr Leben lang ausschließlich Auto gefahren sind, ist der Umstieg im hohen Alter auf öffentliche Verkehrsmittel schwierig“, so Mollenkopf. Sie scheitern häufig an Fahrplänen und Ticketautomaten oder können im anfahrenden Bus das Gleichgewicht nicht halten. Mollenkopf rät deshalb, die öffentlichen Verkehrsmittel frühzeitig in den Alltag einzubeziehen, um nach der Autoära nicht völlig immobil dazustehen.

Der VCD schult ältere Menschen

Genau hier setzt das Projekt „Klimaverträglich mobil 60+“ an, das der VCD zusammen mit der BAGSO und dem Deutschen Mieterbund noch bis zum kommenden Sommer durchführt und das vom Bundesumweltministerium gefördert wird. Das Vorhaben zielt darauf ab, Senioren alternative Mobilitätsangebote nahezubringen, die sowohl gut für die eigene Fitness als auch fürs Klima sind. In acht VCD-Landesgeschäftsstellen gibt es sogenannte Regionalkoordinatoren als Ansprechpartner.

Simon Lauchner führt in Koblenz regelmäßig Schulungen an den ÖPNV-Ticketautomaten durch; in anderen Regionen bieten Verkehrsbetriebe auch oft selbst solche Kurse an. Die für Niedersachsen zuständige Johanna Begrich zeigt den Mitgliedern eines Seniorenvereins, wie sie Bahnfahrkarten im Internet buchen. „Am einfachsten sind ältere Menschen über generationenübergreifende Veranstaltungen zu erreichen“, hat sie beobachtet. Auf Fahrradsternfahrten oder bei Straßenfesten verteilt sie beispielsweise Broschüren des Projektes mit Checklisten für Umzugswillige, die erklären, worauf diese bei der Suche nach einer neuen Bleibe achten sollten. Auch Pedelec-Exkursionen oder Reisetipps für den umweltfreundlichen Urlaub stehen auf der Agenda.

Ein großes Thema des Projekts ist die Mobilität im ländlichen Raum. Die VCD-Regionalkoordinatoren berichten, wie Leute anderswo Fahrgemeinschaften organisieren oder Bürgerbusse initiieren. „Jeder kleine Schritt zählt“, beschreibt die für Baden-Württemberg zuständige Katharina Scheer das Konzept. Sie weiß, dass sie im „autoverliebten“ Stuttgart kaum Chancen auf Gehör hätte, wenn sie grundsätzlich davon abraten würde. Doch vielleicht geht es beim nächsten Kauf auch eine Nummer kleiner? „Viele sind offen für verbrauchsärmere Autos. Und wenn wir sie dann ansprechen, sind sie im zweiten Schritt oft auch bereit, auf Umweltaspekte zu achten“, so Scheer. Dass jemand sagt, er schaffe sein Auto nun ab – so wie eine Frau vor kurzem nach einer VCD-Veranstaltung auf den Nachhaltigkeitstagen in Freiburg – sei die große Ausnahm.

Senioren fahren vorsichtig

Das Thema Alte und Autos hat aber auch gesamtgesellschaftliche Aspekte. Opas mit Hut auf der Ablage sind seit jeher dem Spott der Stammtische ausgesetzt. Immer wieder flammen auch Diskussionen über Fahrtests für Senioren auf, weil sie angeblich ein Sicherheitsrisiko für die Allgemeinheit darstellen. Der Psychologieprofessor Georg Rudinger vom Zentrum für Alternskulturen in Bonn hat zahlreiche Untersuchungen ausgewertet und hält deshalb nichts von flächendeckenden Überprüfungen oder Nachschulungen.

Mit Ausnahme von etwa fünf Prozent der Männer, die sich durch einen rasanten Fahrstil als ewig Junggebliebene darstellen wollen und sich dabei immer wieder überschätzen, sind ältere Autofahrer im Durchschnitt vorsichtiger und langsamer unterwegs als der Rest der Bevölkerung. Bei Verstößen, die im Rahmen von Geschwindigkeits- und Alkoholkontrollen festgestellt werden, ist die Altersgruppe 60+ deutlich unterrepräsentiert. Auch auf Autobahnen sind sie seltener anzutreffen. In der Regel bevorzugen Senioren Strecken, die sie kennen. Zwar gibt es bei älteren Jahrgängen unzweifelhaft überdurchschnittlich viele, die regelmäßig Medikamente einnehmen müssen, deren Sehfähigkeit abnimmt, die Schwierigkeiten haben, über die Schulter zu blicken oder im Dunkeln die Geschwindigkeit anderer Fahrzeuge richtig einzuschätzen. Doch ein Großteil der älteren Frauen und Männer stellt sich darauf ein und setzt sich nur hinters Steuer, wenn sie sich fit fühlen und die Straßenverhältnisse absehbar gut sind.

An Unfällen mit Personenschaden sind Ältere allerdings etwa genauso oft schuld wie die Hochrisikogruppe der Fahranfänger, wie das Statistische Bundesamt ausgerechnet hat. Dabei haben aber vor allem sie selbst und ihre Altersgenossen die Folgen zu tragen: „Senioren gefährden bei Unfällen besonders stark sich selbst und ihre Mitfahrer – 90 Prozent sind auch Senioren – und weniger stark ihre Kollisionspartner“, fasst der Bonner Forscher Georg Rudinger zusammen. Mehr als jeder vierte Verkehrstote war älter als 65 Jahre, bei den Fußgängern und Radlern ist es sogar jeder zweite. Der Grund: Ältere Leute sind verletzlicher als Menschen in jungen Jahren.

Zwar entwickeln Autokonzerne im­mer neue Assistenzsysteme wie elektronische Einparkhilfen. Doch mit „seniorengerecht“ wollen sie ebenso wenig werben wie Kommunen. Dabei könnten Städte einiges tun, um das Leben der älteren Einwohner angenehmer und sicherer zu machen. Eine klarere Kennzeichnung von Bordsteinkanten oder Verkehrsinseln gehört ebenso dazu wie eine Verlängerung der Grünphasen an Fußgängerampeln. Doch der Bonner Stadtrat wehrte beispielsweise schon die Diskussion darüber ab mit dem Argument, man sei doch eine „junge“ Stadt. Und in Heidelberg wird gegenwärtig überlegt, Bushaltestellen zusammenzulegen, wodurch die Wege zum nächsten Stopp durchschnittlich länger würden. Für viele Alte wären sie dann nicht mehr erreichbar.

Wie immer sind Betuchte im Vorteil vor Menschen mit kleinem Geldbeutel: Wer sich ohne Problem ein Taxi leisten kann, kann auch ohne eigenes Auto jederzeit mobil sein. Dagegen müssen sich viele ärmere Rentner schon überlegen, ob sie sich die Fahrt mit dem Bus finanziell überhaupt leisten können.


Annette Jensen

fairkehr 5/2023