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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2014

Wo das Auto Lebensqualität bedeutet

Im fairkehr-Interview spricht der Landarzt Heribert Schöll über Alter, Stolz und Autofahren.

Foto: Anna LorenzHeribert Schöll (62) ist Landarzt aus Leidenschaft. Seit über 25 Jahren betreibt er seine Praxis im Hunsrück. Er hat das kleine Dorf buchstäblich altern sehen.

fairkehr: Herr Schöll, Sie betreiben eine Praxis im ländlichen Raum. Wie würden Sie die Altersstruktur in Ihrer Praxisgemeinde und dem Umland beschreiben?

Heribert Schöll: Von meinen Patienten sind circa 70 Prozent über 65 Jahre alt und viele weit über 80. Schulpflichtige Kinder gibt es jedes Jahr weniger. Ich habe das Dorf buchstäblich altern sehen.

Wie mobil schätzen Sie Ihre älteren Patienten ein?

Bei meinen über 70-jährigen Patienten sind rund 90 Prozent noch mit ihrem eigenen Auto unterwegs. Mehr schlecht als recht teilweise. Da bekommt der Spruch „Die Straßen unsicher machen“ eine ganz neue Bedeutung. Ich kenne ein älteres Ehepaar, das nur noch zusammen Auto fahren kann: Denn er leidet an Demenz und findet sich auf den Straßen nicht mehr zurecht, sie ist körperlich nicht mehr in der Lage, den Wagen selbst zu lenken. Also steuert er das Fahrzeug und sie sagt den Weg an. In diesem Fall ist die gesetzliche Regelung, den Führerschein nur freiwillig abgeben zu können, grob fahrlässig.

Wie alt war Ihr ältester Patient, der noch selbst gefahren ist?

Er war weit über 90. An seinem 94. Geburtstag habe ich ihn dann gebeten, doch so vernünftig zu sein, seinen Führerschein abzugeben.

Und hat er das getan?

Ja, er hat gelacht und gesagt: „Ich habe schon geahnt, dass Sie das sagen, Herr Doktor!“ und hat mir seinen Führerschein gegeben. (lacht)

Sind die meisten Ihrer älteren Patienten so einsichtig?

Der Großteil schon, aber einige weigern sich hartnäckig ihren Führerschein abzugeben. Was nicht verwunderlich ist. Hier auf dem Land bedeutet ein eigenes Auto eben Lebensqualität und manchmal scheint es sogar überlebenswichtig zu sein. Ein dichtes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln, wie man es in der Stadt vorfindet, gibt es vor Ort nicht. Der Bus fährt nur alle paar Stunden. Mit dem Auto ist man hingegen in nur fünf Minuten in der nächsten Kleinstadt. Autofahren bedeutet auf dem Land Selbstständigkeit und Flexibilität.

Sie sind Mitglied im Gemeinderat. Gibt es Bemühungen, den älteren Dorfbewohnern mehr Mobilität im Alltag zu ermöglichen?

Ja, die gibt es. Wir haben einige Zeit einen speziellen Gemeindebus eingesetzt, der die Haushalte anfährt, die älteren Menschen einsammelt und in die Stadt bringt, damit sie dort einkaufen, zum Arzt oder zur Bank gehen konnten. Also eine Art „Alten-Taxi“. Aber leider wurde das nach einiger Zeit wieder eingestellt, weil es überhaupt nicht angenommen wurde.

Können Sie sich erklären wieso?

Heribert Schöll: Ich denke, es hat etwas mit Stolz zu tun. Wer noch mit dem eigenen Auto fährt, fühlt sich frei und unabhängig. Den Gemeindebus zu benutzen, also die Hilfe bewusst anzunehmen, bedeutet anzuerkennen, dass sie es eben nicht mehr alleine schaffen. Ich glaube, dazu sind viele meiner Patienten noch nicht bereit. Ich hoffe aber, dass sich das ändert und die älteren Dorfbewohner zukünftig solche Möglichkeiten nutzen. Schließlich wollen wir alle, dass das Landleben auch im Alter lebenswert bleibt.


Anna Lorenz

fairkehr 5/2023