fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Editorial 6/2014

Da geht noch was

Foto: Marcus Glogerfairkehr-Chefredakteur Michael Adler

Use it or lose it“ –  so erklärte Professor Ingo Froboese von der Sporthochschule Köln die Eigenart ­unserer Muskulatur: Gebrauche deine Muskeln oder verliere sie. Wir Deutschen sind im Schnitt noch 25 Minuten am Tag körperlich aktiv, zu Fuß gehen wir nur 500 Meter. Oft nur zum Auto hin und von ihm weg. Ein Teufelskreis: Wenig Bewegung lässt Muskeln schrumpfen, die Beweglichkeit nimmt ab, wir bewegen uns noch weniger. Froboeses gute Nachricht: Muskeln wachsen schnell, und wenig Bewegung hilft schon viel. Das gilt in jedem Alter, auch jenseits der 60.

Unsere aufs Auto fixierte Verkehrspolitik fördert die Bewegungsarmut. Eine Hypothek auch für unsere alternde Gesellschaft. Heute ist schon jeder fünfte Mensch in Deutschland älter als 65 Jahre, im Jahr 2030 wird es schon fast jeder dritte sein. Und es wird die erste Rentnergeneration sein, die komplett mit dem Auto aufgewachsen ist. Kaputte Bandscheiben, eingerostete Kniegelenke, Bluthochdruck und Unbeweglichkeit sind die Folge.

30 Minuten Radfahren oder Gehen am Tag könnten viele dieser Leiden kurieren. Moderate Bewegung, darin sind sich alle Mediziner und Physiotherapeuten einig, wirkt wie ein Lebenselixier. Wer nach Fußgängern ruft, sollte allerdings auch ein entsprechendes Angebot an Bewegungsräumen im Alltag anbieten. Wenn doch unsere Städte und ­Gemeinden endlich die Wichtigkeit einer durchdachten Fußverkehrspolitik begreifen würden.

Für immerhin 34 Prozent der über 60-Jährigen sind die eigenen Füße das Hauptverkehrsmittel im Alltag. Zwei Drittel der Älteren empfinden das ­Zufußgehen in der Stadt als schnellstes Fortbewegungsmittel. Trotzdem halten die Städte Fußgänger am liebsten in ­Reservaten, Fußgängerzone genannt, schon zu ihrer eigenen Sicherheit. Der Fußgänger hat keine eigene Daseinsberechtigung auf deutschen Straßen. Ganz anders in der Schweiz: In mehr als 400 Begegnungszonen haben Fußgängerinnen und Fußgänger Vorrang vor Autos, Bussen  und Fahrrädern. Immer noch eine „Zone“, aber hier ist der Name Programm. Hier können sich Menschen ­begegnen, der eigentliche Zweck von Stadt und Dorf. Im belgischen Gent können Anwohner ihre Wohnstraße in eine „levenstraat“, eine „Lebensstraße“ verwandeln. Alle Autos, auch die parkenden, werden für einige Monate verbannt und das Leben zieht ein.

Wer sich in Deutschland für die dem Menschen gemäße Fortbewegung einsetzt, wird oft noch lächerlich gemacht. Dabei gäbe es so viel zu tun. Geschäfte gehören ins Zentrum unserer Städte und Dörfer, nicht auf die autogerecht asphaltierte grüne Wiese. Poller und Ketten, die Fußgängerinnen und Fußgänger zu Umwegen nötigen, gehören beseitigt. Grünphasen an Fußgängerampeln, die nur im Sprinttempo zu schaffen sind, ebenso. Und natürlich enge Bürgersteige, auf denen sich ­Kinderwagen und Rollator aneinander vorbeizwängen müssen.

Das würde die Mobilität aller Menschen in Deutschland erhöhen, die der Alten und die von Kindern in jedem Fall. Wer früher umsteigt, bleibt länger mobil. „Use it or lose it.“

Ein nicht zu geruhsames ­Weihnachtsfest wünscht Ihne.

fairkehr 5/2023