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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2014

Taktlos und ­größenwahnsinnig

Wie die Deutsche Bahn mit viel Geld wenig erreicht.

Foto: Oli Keinath + Tobi BohnSeit der Privatisierung hat die Deutsche Bahn in den Zügen und am Bahnsteig viel Personal eingespart.

Vor 20 Jahren schickte der Bundestag die Staatsbahn aufs Abstellgleis. Durch die Reform konnte die DB AG nicht nur hohe Schuldenberge hinter sich lassen. Befreit von Beamtentum und Behördendenken würde sie auch mehr Verkehr auf die Schiene bringen, so die Hoffnung.

Zeit für eine Bilanz. Für Bahnchef Rüdiger Grube fällt sie eindeutig positiv aus – er beobachtet eine „Renaissance des Schienenverkehrs“. Ein Großteil seiner Zeitgenossen kann dies allerdings nicht erkennen: Weniger als zehn Prozent der Reisenden sind in Deutschland mit dem Zug unterwegs, im Fernverkehr ist der Anteil sogar gesunken. Und auch wenn heute mehr Güter übers Gleis transportiert werden als 1994, so sind die Mengen, die auf deutschen Straßen unterwegs sind, noch wesentlich stärker gewachsen. Dazu trägt die DB selbst bei: Sie hat mehrere internationale Logistikkonzerne aufgekauft, die weltweit mit Lkw, Schiffen, Flugzeugen und gelegentlich auch per Zug Waren transportieren. Nach wie vor dümpelt der Bahnanteil in Deutschland bei mageren 17 Prozent.

Etwa 5,2 Milliarden Euro fließen jährlich in die deutsche Bahninfrastruktur, rund zwei Drittel davon sind Steuergelder. Obwohl die EU seit langem darauf drängt, Schienennetz und Betrieb von-ein­ander zu trennen, weil nur dann Wettbewerber eine realistische Chance haben, gehört die Infrastruktur nach wie vor zur DB AG. Und die hat seit der Bahnreform nicht nur 8000 Kilometer Strecken stillgelegt, sondern auch Zehntausende von Weichen herausgerissen, so dass unterschiedlich schnell fahrende Zügen sich vielerorts nicht mehr ausweichen können. Darüber hinaus kappte die DB mehr als zwei Drittel Gleisanschlüsse, machte über tausend Bahnhöfe dicht und ließ die Pflege der Schienen an vielen Stellen schleifen. Der Fokus der Entscheider liegt eindeutig auf schnellen Metropolenverbindungen.

Dabei sind in einem Flächenland wie Deutschland über 90 Prozent der Zugpassagiere im Regionalverkehr unterwegs. Das aber verlieren die Männer in der Chefetage der DB AG immer wieder aus dem Blick – was bei ihren Berufsbiografien auch nicht verwundert. Während der erste Bahnchef Heinz Dürr aus der Automobilindustrie kam, stammen der zehn Jahre lang amtierende Hartmut Mehdorn und der gegenwärtige Vorstandsvorsitzende Rüdiger Grube aus der Flugzeugbranche.

Foto: Oli Keinath + Tobi BohnMit guten Bahnverbindungen kommen die Menschen schnell und ausgeruht ans Ziel.

Mit Abstand das meiste Geld geht für neue ICE-Strecken drauf. Allein 700 Millionen Euro kostete die neue Trasse zwischen München und Augsburg, die die Fahrtzeit einiger – durchaus nicht aller – Hochgeschwindigkeitszüge auf der Strecke um zehn Minuten verkürzt. Für den ICE-Abzweig nach Wiesbaden wurde ebenfalls mehr als eine viertel Milliarde verpulvert, obwohl dort täglich nur zwei Zugpaare verkehren – und am Wochenende gar nichts. Solche Trassen sind für den Güterverkehr völlig unbrauchbar, und auch vielen Reisenden bringen die teuren Fahrtzeitgewinne nichts. „Für die meisten ist nicht die superschnelle Verbindung zwischen einzelnen Städten wichtig, sondern die Minimierung der Gesamtreisezeit.“, konstatiert Heidi Tischmann, Verkehrsreferentin beim VCD. Viele ICE-Nutzer verlieren die Zeitersparnis denn auch gleich wieder beim Warten auf ihren Anschluss. Seit Abschaffung des Interregios sind viele Gegenden außerdem nur noch mit Nahverkehrszügen zu erreichen. Die Eifel, Nordbayern oder eine 250000-Einwohner-Stadt wie Chemnitz sind inzwischen vollständig vom Schnellverkehr abgekoppelt. Auch Orte wie Regensburg, Magdeburg oder Dresden mussten eine radikale Ausdünnung des Fernverkehrsangebots hinnehmen.

Vorbild Schweiz

Heidi Tischmann fordert einen Perspektivwechsel. „Was im Nahverkehr auf der Schiene bereits Praxis ist, muss auch im Fernverkehr flächendeckend eingeführt werden – der integrale Taktfahrplan. Das bedeutet, dass alle Fahrtenangebote aufeinander abgestimmt, die Umsteigezeiten in den Bahnhöfen kurz sind und die Züge möglichst rund um die Uhr zur gleichen Minute abfahren.“ Wie das konkret geht, lässt sich in der Schweiz studieren. Alle 15, 30 oder 60 Minuten kommen Züge aus allen Richtungen an einem Bahnhof an – wenige Umsteigeminuten später setzen sich alle wieder in Bewegung. An diesem Gesamtkonzept orientiert sich der gesamte Schienenausbau in der Alpenrepublik. Nur wo es nötig ist, dass ein Zug eine bestimmte Strecke schneller schafft, um rechtzeitig zum gemeinsamen Taktschlag am nächsten Bahnhof einzutreffen, wird eine Trasse verbessert. Die Schweizer Bevölkerung goutiert das Angebot: Jährlich mehr als 2100 Kilometer fährt dort ein Durchschnittsmensch mit dem Zug – in Deutschland legt jeder Bewohner dagegen im Schnitt nur gut 920 Kilometer auf diese Weise zurück.

Die Umstellung des Schweizer Bahnsystems hat bisher vier Milliarden Euro gekostet. Die Einzelschritte waren nicht spektakulär und eigneten sich folglich viel weniger für die Selbstdarstellung von Politikern und Bahnmanagern als Großprojekte wie Stuttgart 21. Doch das kleinteilige Vorgehen führt zu sofortigen und kontinuierlichen Verbesserungen, während sich die Vorteile von Großprojekten erst viele Jahre, manchmal Jahrzehnte nach dem ersten Spatenstich einstellen. Zudem werden Milliardenprojekte wie die ICE-Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm nicht einmal die Betriebskosten erwirtschaften, geschweige denn die Abschreibungen. Das Ganze funktioniert nur deshalb, weil der Staat den Bau fast vollständig finanziert und die DB den Nahverkehrszügen Trassenpreise abknöpft, die weitaus höher liegen als die dort anfallenden Kosten.

Dabei waren die Ausgangsbedingungen der Schweizer Bahn keineswegs besser als in Deutschland. Auch sie hatte lange Zeit immer mehr Kunden verloren und auch hier trommelten Politiker für den Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken. Mehrere Volksabstimmungen brach­ten diese Pläne jedoch zu Fall, und auch der Taktverkehr wurde von der Bevölkerungsmehrheit auf die Schiene gesetzt.

In der Schweiz steht heute der Bedarf der Kunden im Zentrum – dagegen handelt die DB nicht nach verkehrspolitischen Kriterien. Vielmehr prägen vor allem eine betriebswirtschaftliche Logik und die Suche nach Finanzquellen ihr Vorgehen. Jahrelang wurde das Unternehmen fast ausschließlich für den geplanten Börsengang „hübsch gemacht“. Damit die Bilanz für Investoren möglichst gewinnträchtig erschien, ließ vor allem Hartmut Mehdorn an Ersatzinvestitionen und Wartung sparen. Die Folge waren nicht nur viele Langsamfahrstellen, sondern auch Saunazüge und Winterchaos. Vorm Kölner Hauptbahnhof brach eine Achse bei einem ICE, in Berlin waren zeitweise mehr als die Hälfte der S-Bahnen außer Betrieb, weil das Eisenbahnbundesamt nach einem Unfall schwere Wartungsmängel festgestellt hatte.

Foto: Oli Keinath + Tobi BohnBei aller berechtigten Kritik am ­Unternehmen DB bleibt die Bahn für Menschen, die umweltfreundlich mobil sein wollen, neben dem Fahrrad das Verkehrsmittel der Wahl.

Das Bahnpersonal wurde seit der Reform 1994 halbiert. Während die Schweizer Bahnen in den vergangenen Jahren neue Schalter eröffnet haben, tut in Deutschland an den meisten Bahnhöfen nur noch „Kollege Automat“ Dienst. Dabei ist das Preissystem hierzulande wesentlich unübersichtlicher als beim südlichen Nachbarn. Probekunden von Verbraucherschutzorganisationen stellten mehrfach fest: Selbst Bahnmitarbeiter blicken bei der Vielzahl der Tarife nicht mehr durch.

Dass in Deutschland der Nahverkehr der einzige Bahnbereich mit deutlichen Zuwächsen ist, hat mehrere Gründe. Zum einen sehen sich viele Reisende gezwungen, Regionalzüge zu nutzen, weil sie nach Abschaffung der Interregios keine Alternative haben. Zum anderen wurde das Angebot aber auch vielerorts ausgeweitet. Seit 1996 sind die Länder dafür zuständig, Züge zu bestellen; dafür bekommen sie vom Bund einen Anteil der Mineralölsteuer. Etwa sieben Milliarden Euro sind das gegenwärtig pro Jahr. Nachdem viele Landesregierungen das Geld zunächst einfach an die DB weitergeschoben hatten, entdeckten sie zunehmend, dass Vorreiter wie Schleswig-Holstein deutlich mehr Verkehr für das Geld bekommen konnten als zuvor. Aus Insiderkreisen hört man, die DB versuche ständig, die Wettbewerber durch unfaire Preisgestaltung und ungünstige Trassenzeiten von den Schienen fernzuhalten – ein Vorgehen, das betriebswirtschaftlich betrachtet durchaus sinnvoll ist. Doch die Regulierungsbehörde hat inzwischen die schlimmsten Auswüchse eingedämmt. Immerhin ein Viertel der Nahverkehrszüge wird mittlerweile von DB-Konkurrenten betrieben. Beim Fernverkehr liegt ihr Anteil dagegen bei unter einem Prozent.

Was tun? An der Grundsatzforderung des VCD hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert. „Die Schiene muss deutlich attraktiver werden, damit mehr Menschen bereit sind, auf die Bahn umzusteigen, und Spediteure ihre Güter über die Schiene versenden. Handeln muss hier an erster Stelle der Bund, der die grundgesetzliche Verantwortung für den Verkehrsträger Schiene hat“, sagt der Bundesvorsitzende Michael Ziesak. Entscheidungen wie die Einstellung des Nachtzugverkehrs oder Angebotsreduzierungen im Fernverkehr dürften nicht allein der DB überlassen werden. Vielmehr müsse der Bund hier steuernd eingreifen und Mindeststandards setzen. „Am wichtigsten ist es allerdings, die unfairen Ungleichbehandlungen zwischen den Verkehrsträgern zu beseitigen“, so Ziesak. Während Autos und Lkw einen Großteil der Straßen kostenlos nutzen dürfen, müssen Züge für jeden gefahrenen Kilometer Schienenentgelte bezahlen. Außerdem werden internationale Bahntickets hierzulande mit 19 Prozent Mehrwertsteuer belegt – bei Flugtickets verzichtet der Staat darauf. Wolf Drechsel von der Gesellschaft für fahrgastorientierte Verkehrsplanung erklärt das so: „Das Grundproblem in Deutschland ist, dass sich die Lebenswelt der Entscheider von der Lebenswelt der Durchschnittsbevölkerung deutlich unterscheidet, insbesondere im Bereich Mobilität.“

Annette Jensen

fairkehr 5/2023