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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 4/2014

Radfahren mit Rückenwind

Ein neuer Radfernweg führt vom Genfer See durchs Tal der Rhône zum Mittelmeer.

Fotos: Uta LinnertBiowinzer Pommier schenkt seinen Gästen reinen Wein ein. Die neue Brücke in Rochemaure hängt an alten Pfeilern. Die ViaRhôna fährt man am besten von Nord nach Süd – der Sonne entgegen Tomaten fürs Picknick gibts auf den Märkten am Weg.

Der ewige Fluch, dass der Wind beim Radfahren immer von vorn kommt, trifft auf dieser Tour garantiert nicht zu. Wer mit dem Fahrrad an der Rhône entlang nach Süden fährt, kann sich vom Mistral ans Mittelmeer schieben lassen. Der starke Nordwind treibt im Tal des größten französischen Flusses nicht nur die Radler vor sich her, sondern pustet auch die Wolken weg und sorgt für ideales Radfahrwetter: frische, klare Luft und tiefblauen Himmel.

Wir sind unterwegs auf der ViaRhôna. Wir, das sind einige Reisejournalistinnen, denen die Marketingleute des Projektes zeigen wollen, wie weit sie mit der neuen Radroute schon sind. Die ViaRhôna soll dereinst den Genfer See mit dem Mittelmeer verbinden. Sie führt immer am Strom entlang, auf extra angelegten Wegen, durch Auen, über Deiche und Hängebrücken, möglichst weit weg von Nationalstraße und Autobahn. Spätestens im Jahr 2020 sollen Radler die gesamten 700 Kilometer durchrollen können – ohne große Steigungen der Sonne entgegen. Noch sind nicht alle Abschnitte fertig, aber im mittleren Teil, südlich von Lyon bis zu den ersten Lavendelfeldern der Provence, ist der Weg schon sehr passabel ausgebaut.

Als Startpunkt ist Vienne ideal. Die Stadt am linken Rhôneufer war in römischer Kaiserzeit zweite Hauptstadt Südgalliens. Noch heute zeugen im Stadtbild das riesige antike Theater, ein sehr gut erhaltener Tempel und die Pyramide des römischen Zirkus ­– angeblich das Grab von Pontius Pilatus – von dieser Zeit. Kostbarer Schmuck, Mosaikfußböden, Latrinen und weitere ausgegrabene Zivilisationserrungenschaften der Imperialisten zeigt das Musee Gallo-Romain direkt am Fluss. Wer sich an den Römerrelikten satt gesehen hat, kann in den Sattel steigen.

Richtig Fahrt aufzunehmen lohnt sich allerdings nicht. Kurz hinter Vienne leitet die ViaRhôna ihre Besucherinnen und Besucher durch die L’Ile du Beurre, ein kleines Naturschutzgebiet auf einer Halbinsel zwischen Hauptfluss und einem Seitenarm der Rhône. Üppiges Grün, Vogelgezwitscher und Ausblicke aufs Wasser. Weil hier immer wieder Wegsperren aufgestellt sind, ist Auf- und Absteigen angesagt. Wie überhaupt die Konstrukteure auch im weiteren Verlauf der ViaRhôna den Radfahrern überall Pöller, Tore und Felsbrocken in den Weg stellen. Sie sollen die französischen Autofahrer fernhalten, für die breite, asphaltierte Radwege über Land noch ein ungewohnter Anblick sind.

Entlang berühmter Weinlagen

Mittagspause in Condrieu im Hotel Beau Rivage, direkt am Fluss. Der Mistral hat die sonnige Terrasse leer gefegt. Feingemachte französische Familien nehmen ihr Feiertagsmenü hinter geschlossenen Scheiben ein. Auf Radreisende ist man noch nicht eingestellt. Trotzdem bewahrt das Restaurantpersonal bei unserer Ankunft die Contenance und akzeptiert schließlich auch, dass wir das nachmittagsfüllende Essensprogramm auf Hauptgang und Kaffee zusammenstreichen – weil wir weiterwollen. Auch wenn das Dessert am Nachbartisch noch so köstlich aussieht.

Fotos: Uta LinnertAm Rhônedeich produzieren Schafe und Ziegen Milch für köstlichen Käse. Fotostopp am Kernkraftwerk. Von Tournon-sur-Rhône hat man den besten Blick auf die Lagen der Hermitage-Weine. In Vienne steht einer der besterhaltenen Tempel des römischen Imperiums.

Links und rechts der Rhône, unmittelbar oberhalb des Radwegs wachsen die berühmten Weine, die sie im Restaurant ausschenken. Schon die Römer begeisterten sich für die außergewöhnliche Qualität der Böden und klopften hier Rebterrassen in den Stein. Südlich von Lyon sind es die Côte-Rôties, Rotweine, die auf kleinen, steilen Parzellen gedeihen. Keine Tagesetappe später passiert der Radweg die Lagen der Hermitage und Crozes-Hermitage, weltberühmte Cuvées aus der Rebsorte Syrah, für die Kenner aus der ganzen Welt anreisen und ein kleines Vermögen ausgeben. Dazwischen führt der Radweg durch Esskastanienwälder, Obst- und Gemüseplantagen. Die zuckersüßen Früchte des Südens sind schon früh reif: Erdbeeren, Aprikosen, Kirschen, Kiwis und viele Sorten Tomaten. Auf dem Bauernmarkt in La Voulte können wir uns fürs Picknick die Radtaschen damit vollstopfen.

Kraftwerke am Weg

Die Rhône selbst fließt seltsam unbeteiligt durch diese alte Kulturlandschaft, streng kanalisiert zwischen Mauern und hohen Dämmen, auf denen der breite Radweg oft schnurgerade verläuft. Wer am Mittelrhein wohnt oder den Donauradweg kennt, wundert sich, wie wenig auf und an der Rhône los ist. Hier wird nicht Boot gefahren, gerudert oder am Ufer gegrillt. Keine Biergärten locken am Weg. Auch Frachtschiffe sieht man kaum. Dafür hat Frankreichs Industrie dutzende Staustufen mit Schleusen angelegt und Kraftwerke gebaut. Das Rhônewassser, früher wild und gefährlich, treibt heute Turbinen an, produziert Strom und kühlt die Türme von Atomkraftwerken. Im Unterlauf speist es Bewässerungskanäle für die Landwirtschaft. „Die Rhône verbindet die Anrainer, die sie ignorieren“, formuliert es Michel Raffin, französischer Geograf und Rhône-Experte in einem Interview.

Mit der ViaRhôna sollen die Menschen zurück zum Fluss finden. Sie ist deshalb nicht nur Fernradweg, sondern zuallererst für die Bewohner der Städte und Dörfer in Flussnähe gebaut. Kinder können hier Radfahren lernen, Jugendliche Rollschuh laufen. Wir sehen schon Familien auf Radausflügen und Kraftwerksangestellte, die sich auf der Via­­­Rhôna zur Feierabendrunde verabredet haben. An frisch angelegten Parkplätzen und Picknickstellen mangelt es nicht. Dafür fehlt die durchgehende Beschilderung. Auch Hinweise zu Hotels oder den sehenswerten mittelalterlichen Dörfern, den „villages de charme“, die alle paar Kilometer landeinwärts an den Hängen kleben, sind Mangelware. „Wir haben viele Abschnitte gerade erst asphaltiert, die Wegweiser kommen in Kürze“, verspricht Christophe Nury. Der 44-jährige leidenschafliche Radfahrer ist zuständig für die funktionierende Infrastruktur der ViaRhôna.

Thomas und Doris Mandel sind durch Zufall auf den neuen Radweg gestoßen. Zuhause in Offenburg sind die Mittfünfziger mit dem Ziel Mittelmeer aufgebrochen. Ausgerüstet mit Tablet und Landkarten in den Satteltaschen ihrer Reiseräder planen sie Route und Unterkunft von Tag zu Tag neu. „In Lyon haben wir zum ersten Mal die großen ViaRhôna-Infotafeln gesehen“, erzählt Thomas begeistert. Der Zufall hat sie auch auf die Terrasse von Marie-Claire und Bruno Primard geführt. Weil ihnen die frisch renovierten Gästezimmer in dem alten Steinhaus der beiden so gut gefallen, haben sie beschlossen, zwei Nächte zu bleiben und an diesem schönen Platz auszuruhen. „In Saintes-Maries-de-la-Mer sind wir von hier aus in wenigen Tagen“, sagen sie. Ihre Radreise wollen sie am Strand ausklingen lassen.

Rasten und genießen

Radurlauber wie diese hatten die Strategen ebenfalls im Blick, als sie 2003 begannen, die ViaRhôna zu planen. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt von drei Regionen, acht Départements und unzähligen Kommunen, deren Bürgermeister einsehen sollen, dass der Radweg gut für sie ist. Dass er Touristen bringt und Geld in ihre Kassen spült. Und die deshalb mit ihren Mitteln helfen sollen, Lücken zu schließen. „Der ganzheitliche Tourismus, den wir im Blick haben, kommt den Regionen sehr zugute. Radfahrer nehmen sich Zeit und wollen die kulturellen, historischen ökologischen und gastronomischen Schätze am Weg kennenlernen und nutzen“, sagt Julia Grunert, die für die Region Rhône-Alpes die Vermarktung der ViaRhôna übernommen hat. Bisher ist der Radweg in ihrer Region zu etwa 60 Prozent fertiggestellt, Richtung Mittelmeer sieht es noch dürftiger aus.

Raphael Pommier hat seinen Beitrag geleistet. Für den Weiterbau der ViaRhôna hat der Biowinzer einen Streifen Land am Fluss abgetreten. Demnächst will er einen eigenen Radweg zu seinem Hof von der Rhône hinauf zum Weingut Notre Dame de Cousignac anlegen. Am langen Holztisch vor der Hofkapelle aus dem elften Jahrhundert schenkt Pommier den Gästen seine Weine aus. Die Sonne steht hoch am Himmel, alte Bäume spenden Schatten. Neben weißen hat sich Pommier, Winzer in der siebten Generation, auf Rotweine aus Grenache-Trauben spezialisiert. Die „Trauben des Südens“, wie der 44-Jährige sie nennt, gedeihen ab hier, südlich von Montélimar, am Übergang zur Provence. „Schon 1960 hat mein Vater den Betrieb auf Biolandbau umgestellt“, erzählt er.

Im Hofladen verkauft die Familie Bioprodukte aus dem hiesigen Département Ardèche, die vorzüglich zum Wein passen: Würste, Käse, Konfitüren, Esskastaniencreme und Bioschokolade, hergestellt in der Region. Nach etlichen Kostproben der großartigen fruchtigen Rotweine möchte man das Rad am liebsten in den Keller schieben und eines der Gästezimmer, „Chambre d’Hôtes“ genannt, anmieten, danach ein paar Bahnen im hofeigenen Pool ziehen und von der Terrasse den Blick auf den Mont Ventoux genießen. Den fast 2000 Meter hohen Provence-Berg könnte man, wie es die Tour-de-France-Fahrer jedes Jahr tun, ebenfalls mit dem Fahrrad bezwingen. Aber das überlassen wir lieber den Profis. Diese Etappe wäre für uns rückenwindverwöhnte Flussradler eine Nummer zu groß.

Uta Linnert

fairkehr 5/2023