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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 2/2014

Radschnellwege

Auch in Deutschland werden sie nach niederländischem Vorbild geplant: schnelle und komfortable Fahrradwege zur Arbeit, in die Schule oder zum Einkaufen.

Foto: AGFK-BW/Volker LannertFreie Fahrt für Fahrräder: Auf den neuen Radschnellwegen haben Radler Platz und kommen sicher voran.

Ungefähr so kann man sich Radschnellwege vorstellen: Auf einer breiten Fahrbahn fahren zwei Radfahrer locker nebeneinander her und können trotzdem noch von schnelleren Radlern überholt werden. Keine Schlaglöcher, Poller, Fußgänger oder Autos stören oder fordern die Aufmerksamkeit. In direkter Linie und ohne große Steigungen verbinden sie Wohn- und Gewerbegebiete, Schulen, Unis oder Stadtzentren miteinander. Kaum Ampeln oder Kreuzungen bremsen die Radfahrerinnen und Radfahrer aus. Mit der grünen Welle rollen sie durch die Innenstadt. Abends sind die Radwege beleuchtet und das ganze Jahr über müll-, laub- und schneefrei.

Zukunftsmusik ist das in den Niederlanden schon lange nicht mehr. Das Erfinderland der „Fietssnellwegen“ hat seit 2005 acht schnelle Radstrecken realisiert. „Am Anfang wollten wir Städte verbinden. Heute geht es uns darum, schnelle Radstrecken auch in den Innenstädten zu realisieren“ sagt Ineke Spapé, Radverkehrsexpertin des niederländischen Beratungsbüros SOAB und Radverkehrsprofessorin an der NHTV Fachhochschule für Verkehrsplaner in Breda. ­Gerade hat das niederländische Verkehrsministerium 700 Millionen Euro für weitere 675 Kilometer genehmigt. Zwanzig Radschnellwege sollen bis 2025 gebaut werden.

Locker 15 Kilometer radeln

Das niederländische Konzept findet in Europa großen Anklang – in London und rund um Kopenhagen entstehen bereits schnelle Strecken. Sie erlauben ein konstant zügiges Fahren mit hohem Komfort. Das bringt Radlern Vorteile im Alltagsverkehr und motiviert, auch für längere Strecken aufs Rad zu steigen. Auf Radschnellwegen lassen sich Distanzen bis zu 15 Kilometer – mit elektrounterstützten Pedelecs sogar mehr als 20 Kilometer – locker bewältigen. Staugeplagte Strecken und der überfüllte öffentliche Nahverkehr werden entlastet, Klima, Umwelt und Gesundheit profitieren. Auf lange Sicht kommt das auch den klammen Kassen der Kommunen zugute.

Aber zuerst muss Geld fließen. Die Kosten eines Radschnellweges hängen stark von der Anzahl größerer Baumaßnahmen wie Brücken oder Unterführungen ab. Im Schnitt kostet ein Kilometer Radschnellweg eine Million Euro. Zum Vergleich: Ein Autobahnkilometer kostet mindestens das Zehnfache, von den Instandhaltungskosten ganz abgesehen.

Foto: AGFK-BW/Volker LannertDas Ziel der neuen Radverkehrsverbindungen: grüne Welle für Radfahrer auf sicheren Wegen.

Bisher investierten Bund und Länder in Deutschland eher in ein Radwegenetz für Freizeit und Tourismus. Radschnellwege zielen aber auf die Alltagswege ab. Sie sollen Pendler und Schüler von Auto, Bus und Bahn aufs Rad locken. Dass das funktioniert, zeigt sich überall dort, wo schnelle Radverbindungen existieren. Spapé weiß das aus eigener Erfahrung: Wenn ein Ziel einfach, schnell und bequem mit dem Fahrrad zu erreichen ist, dann lässt sie ihr Auto stehen. „Die Menschen muss man nicht groß überzeugen. Alles, was sie brauchen, um mehr Rad zu fahren, ist eine funktionierende Infrastruktur“, sagt die Radverkehrsexpertin. Mobilitätsforscher Jörg Thiemann-Linden vom Deutschen Institut für Urbanistik (difu) bestätigt das. „Manche Uferpromenaden im Rheinland sind schon darauf angelegt, dass man schnell mit dem Rad vorankommt. Dort fahren viele Menschen bereits längere Strecken mit dem Rad zur Arbeit“, sagt Thiemann-Linden.

Leuchtturmprojekt an der Ruhr

Seit das Konzept der Niederländer so gut aufgeht, diskutieren auch in Deutschland Verkehrswissenschaftler, Planer, Politiker, Radverkehrs- und Umweltverbände, wie zum Beispiel der VCD, über Radschnellwege. Und es tut sich etwas. Vor allem in Nordrhein-Westfalen. Im Ruhrgebiet entsteht der Radschnellweg Ruhr, kurz RS1. Er gilt bundesweit als Pilotprojekt. Geplant ist eine 100 Kilometer lange Strecke mit durchgängig hohen Qualitätsstandards wie eine breite eigene Fahrbahn, eine möglichst steigungsarme und kreuzungsfreie Wegführung nahe den Innenstädten, grüne Welle für Radfahrer, gute Beleuchtung und Winterdienst.

Von Duisburg bis Hamm soll der RS1 die Städte des Ruhrgebiets von Westen nach Osten verbinden. Das Bundesverkehrsministerium hat eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die in diesem Sommer vorgelegt werden soll. Martin Tönnes, stellvertretender Direktor des Regionalverbandes Ruhr (RVR) und Bereichsleiter Planung: „Der Radschnellweg Ruhr hat bundesweite Strahlkraft. Das Ruhrgebiet steht mit dem Projekt an der Spitze für eine zukunftsweisende Mobilität in Ballungsräumen. Die Region steht geschlossen zu dem Projekt und wartet gespannt auf die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie. Aber auch andere Regionen in Deutschland können von unseren Erfahrungen profitieren, denn was in diesem dichten Ballungsraum umsetzbar ist, ist auch in anderen Metropolen möglich.“

Hauptsache, anfangen

Parallel zur meist verstopften A 40/B1 sollen demnächst Pendler im Ruhrgebiet am Stau vorbeiradeln. Im engeren Einzugsbereich des RS1 wohnen etwa eine Million Menschen. Ein großer Teil des Radschnellweges kann auf ehemaligen Trassen der Rheinischen Bahn gebaut werden. Knackpunkte in der Planung sind die Wegführung in den Innenstädten und Querungsbauten. Letztere sind teuer, und in den Städten bedeutet mehr Platz für Radfahrer meist weniger Platz für andere Verkehrsteilnehmer. Dazu hat Ineke Spapé eine klare Meinung: „Jahrzehntelang haben wir Platz für Radwege und Straßen bei den Fußgängern geklaut. Da ist beinahe nichts mehr übrig. Jetzt müssen Autos den Fahrrädern Platz machen.“ In den Niederlanden werden Fahrradprojekte auch nicht separat behandelt. Es sind „Autoprojekte“. Da, wo Staus die Straßen verstopfen, werden Schnellradwege als Alternativen zum Auto geplant und gebaut. Radinfrastruktur sei einfach billiger als Autoinfrastruktur.

Vielleicht ist das mit ein Grund, warum die rot-grüne Landesregierung in NRW den Ausbau des Alltagsradverkehrs ins Visier genommen hat. Ende 2013 hat sie fünf Schnellradweg-Projekten aus einem Planungswettbewerb die Förderzusage erteilt. 50 Kilometer Schnellwege in Aachen, Bad Oeynhausen, Düsseldorf, Köln und Rhede im Münsterland sollen in Zukunft den Radverkehr verbessern – auch um noch mehr Staus auf den Autobahnen zu vermeiden. Die Förderung von Radschnellwegen hatte die Landesregierung als einen wichtigen Baustein ihres Aktionsplans zur Förderung der Nahmobilität definiert. In der Koalitionsvereinbarung hat sie beschlossen, das Straßen- und Wegegesetz in Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf Radschnellwege zu ändern. Diese sollen wie Landesstraßen in der Baulast des Landes liegen. Das bedeutet, dass das Land die Kosten für Bau und Unterhaltung trägt.

Pedelecs geben das Tempo vor

Der Boom der Elektrofahrräder hat mit dazu geführt, mehr Geld für Fahrradinfrastruktur bereitzustellen. Aus Mitteln der Elektromobilitätsförderung des Bundesverkehrsministeriums ist zum Beispiel die Radschnellstrecke in Göttingen entstanden. Sie soll auf vier Kilometern den Nordcampus der Uni mit dem Göttinger Bahnhof verbinden. Seit November 2013 ist das erste Teilstück fertig. Jörg Thiemann-Linden war bei der Eröffnung dabei: „Es fährt sich gut auf dem breiten Weg.

Besonders gut gefällt mir, dass die Strecke auch zeigt, wie Schnellwege für Radfahrer im urbanen Umfeld gelingen können“, sagt der difu-Mobilitäsforscher. Das zweite Teilstück bis zum Bahnhof sei etwas aufwändiger in der Planung und noch im Bau. Bis Herbst 2014 soll die gesamte Strecke fertig sein.

Ineke Spapé testet gern Radwege in fremden Städten. Fahrradfahren in München gefiel ihr gut, in Stuttgart war es „beinahe unmöglich“, sagt sie. Die Londoner „Cycle Superhighways“ fand sie furchtbar. Sie seien zu nah am Autoverkehr, man müsse sehr viel Acht geben. „Auf holländisch fahren kann man da vergessen! Aber besser als nichts – irgendwo müssen die Londoner ja mal anfangen“, sagt Spapé.

Die pragmatische Einstellung und der Blick fürs Wesentliche ist für die Niederlande typisch. Fragt man Spapé nach den Standards für Radschnellwege, sagt sie knapp: „Es müssen schlaue Verbindungen sein.“ Gesetzlich ist in den Niederlanden für den Radschnellwegebau im Vergleich zum Radwegebau nichts Spezielles vorgeschrieben. Aber es gibt Richtlinien: vier Meter Breite, rotflächiger Asphalt, gute Beleuchtung, so wenig Kreuzungen und Ampeln wie möglich. „Aber es muss nicht immer alles perfekt sein“, sagt Spapé. „Wenn ein Radschnellweg durch ein Naturschutzgebiet führt und deshalb der Weg etwas schmaler sein soll und für ein kleines Stück ohne roten Asphalt auskommen muss, dann gilt: Besser eine „Next best“-Lösung als gar kein Radschnellweg.“ Die Radexpertin ermutigt Deutschland zu mehr Pragmatismus. „Hauptsache, anfangen“, ist ihr Motto.

Holländisch Radfahren geht übrigens so: Einfach in die Pedale treten und sich keine Gedanken um den restlichen Verkehr oder die Wegführung machen. Spapé hat neulich sogar fahrradfahrend ein Interview gegeben, als sie auf dem Radschnellweg zur Arbeit fuhr. Nur ein einziges Mal musste sie das Interview unterbrechen – da brauchte sie kurz Aufmerksamkeit beim Überqueren einer Autostraße.

Valeska Zepp

Radschnellwege erobern Europa

Dänemark

Etwa 100000 Pendler aus den umliegenden Vororten fahren täglich 4 bis 15 Kilometer nach Kopenhagen zu ihrer Arbeitsstelle. Sie sollen mit 26 „Cykelsuperstiers“ aufs Rad gelockt werden. 2012 wurde der erste Radschnellweg eröffnet. 

Großbritannien

In London sollen zwölf „Cycle Superhighways“ sternförmig ­direkt ins Zentrum verlaufen. Die ersten vier fertigen Strecken werden von der Bevölkerung gut angenommen.

fairkehr 5/2023