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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2014

Laufend andere Perspektiven

Eine Stadtführung im Joggingtempo durch Köln bringt einen neuen Blick auf das Gesicht der Stadt – und die Glückshormone in Wallung.

Foto: Kirsten LangeLeichtfüßig über den Rhein: Mit ihren Kunden überquert Sightjoggerin Isabella (Mitte) die Hohenzollernbrücke, Wahrzeichen Kölns.

Einmal stand eine tasmanische Ultra-Läuferin vor Isabella Geschwandtner und wollte eine Stadtführung. Klein, drahtig, voll ausgerüstet, Wasserflasche am Laufhemd befestigt. „Hoppla“, dachte sich die 35-jährige Sightjogging-Führerin, im Hauptberuf Fitnesstrainerin. „Was erwartet die jetzt von mir? Dass ich mit ihr nicht nur durch Köln, sondern bis nach Düsseldorf laufe?“ Ultra-Läufe fangen immerhin bei 42 Kilometern erst an. Die Tasmanierin war dann aber auch mit Isabellas Klassiker-Tour glücklich: durch die Kölner Innenstadt, den Rheinau-Hafen, über die Süd- und das Wahrzeichen Hohenzollernbrücke mit seinen Zehtausenden Liebesschlössern.

Niemand muss Ultra-Läuferin sein, um sich von Isabella Geschwandtner Köln im Laufschritt zeigen zu lassen. Heute sind es der 36-jährige PR-Fachmann Michael, 2010 aus der Nähe von Mönchengladbach zugezogen, und die 55-jährige Urkölnerin und Lehrerin Simone. Ihre Rundtour startet am Dom. Michael und Simone stehen in Laufklamotten auf einem Sonnenplätzchen und blinzeln zu den knapp 160 Meter hohen Türmen hinauf. Die geborene Badenerin Isabella gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte des UNESCO-Weltkulturerbes und dritthöchsten Kirchengebäudes der Welt. Dann traben die drei Sightjogger los Richtung Altstadt, ganz entspannt im Plaudertempo.

Nächste Stationen: Früh-Kölsch-Gasthaus, Rathaus, Alter Markt, Ostermann-Brunnen, Kirche Groß St. Martin. Isabella nimmt sich für jeden Stopp Zeit, beantwortet Fragen, lässt Michael und Simone an der Nase der Statue von Tünnes reiben, einem Kölschen Original, denn das bringt Glück. Diese Ruhe ist nicht selbstverständlich für Sightjogging-Touren im Allgemeinen. Zwei holländische Sightjogging-Kunden erzählten Isabella vor einiger Zeit von ihrer Tour durch Islands Hauptstadt Reykjavik: Dort lief der Führer gefühlt ohne Unterlass und warf der Gruppe währenddessen Infobrocken über links liegen gelassene Sehenswürdigkeiten zu. Isabella geht es vor allem ums „Seeing“, nicht ums „Jogging“.
In der Kölner Innenstadt sind die Laufabschnitte kurz, das macht nahezu jede Kondition mit. Isabella sagt: „Hier rechts! Da gleich links!“, und lotst ihre kleine Lauftruppe durch Torbögen, in Innenhöfe, durch schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster.

Foto: Kirsten LangeIn der Innenstadt nimmt sich Isabella Zeit für viele Zwischenstopps.

Wie immer stoppt Isabella vor dem Farina-Haus, dem Geburtsort des einzig wahren Eau de Cologne. Seit dem 18. Jahrhundert wird das Parfüm nach dem gleichen Rezept hergestellt. Die drahtige Fitnesstrainerin betritt mit ihren Laufgästen den Laden. Die zwei jungen, adrett geschminkten Damen hinter der Theke lächeln freundlich. Sie kennen es mittlerweile, dass Besucher in Joggingkleidung das historische Haus betreten. Zuvorkommend beantwortet die dunkelhaarige Fachfrau mit französischem Akzent Fragen der Sightjogger und besprüht ihre Handgelenke mit Kölnisch-Wasser-Varianten.

„Am Ende der Lauftour wäre so ein Eau-de-Cologne-Stopp auch nicht schlecht“, sagt Michael, als die Gruppe wieder draußen auf dem Kopfsteinpflaster steht. Die geborene Kölnerin Simone stellt fest, dass sie gerade etwas dazugelernt hat: Das bekannte 4711 ist gar nicht das original Kölnisch Wasser – und riecht im Gegensatz zu Farinas Duftmischung nach Großmutter. Isabella hat ein Vergleichsfläschchen 4711 aus ihrem grünen Laufshirt gezogen und das Parfüm auf Michaels und Simones noch unbeduftetes Handgelenk gesprüht.

Am Rhein macht Simone ihre zweite Entdeckung nach 55 Jahren: den Pegel Köln. Das Pegelhäuschen von 1951 misst den Wasserstand am Stromkilometer 688. Die Truppe trabt Richtung Rheinau-Hafen. 1898 als Hafenanlage in der Südstadt eröffnet, in vielen Jahren Bauzeit umfunktioniert zu einem neuen Wohn-, Büro-, Dienstleistungs- und Gewerbegebiet. Kurzer Zwischenstopp auf der Aussichtsplattform am Schokomuseum mit Blick über den Rhein. Isabella tänzelt die 64 Stufen hinauf, Michael und Simone folgen. Am Rhein werden die Laufstrecken etwas länger, es ist warm für einen März-Freitag, Schweiß entsteht, die Zunge klebt leicht am Gaumen. Ein bisschen Kondition und Lust auf Bewegung brauchen Sightjogger dann doch.

Foto: Kirsten LangeZwischenstopp im Geburtshaus des Original Kölnisch Wassers.

Baustellen, Römer und Pfusch

Sightjogging Köln gibt es seit etwa drei Jahren. Vor einem Jahr hat Isabella das Angebot von einem Freund übernommen, eher als Nebenjob und Hobby. Alle sechs bis acht Wochen buchen Einheimische oder Besucher aus dem In- und Ausland eine bewegende Stadtführung.

Bis ins kleinste Detail kennt die Fitnesstrainerin die Kölner Geschichte nicht. Wer tiefe historische Kenntnis erlangen möchte, sollte eine konventionelle Führung mitmachen. Isabella geht es darum, Kölnern und Gästen einen neuen Blick auf die Stadt zu geben. Wer joggt, bekommt in eineinhalb Stunden viel mehr zu sehen als beim Schlendern. Und ohne Isabellas Runde über Kölns Brücken würden viele Touristen niemals das andere, das rechte Rheinufer betreten. Dabei haben sie von dort einen wunderbaren Blick auf das Panorama der linksrheinischen Innenstadt: mit Dom, Groß St. Martin und den 62 Meter hohen Kranhäusern im Rheinau-Hafen.

Unter der Severinsbrücke im Hafen mal wieder eine Baustelle. Michael, Simone und Isabella klettern über ein niedriges Geländer, um zu den Treppen auf die Brücke zu gelangen. Sie haben heute bereits viele Bretterzäune umrundet. Isabella könnte mittlerweile eine Baustellen-Sightjogging-Tour anbieten. Sie weiß, an welchen Ecken – typisch Köln – gepfuscht wurde. Und wo man beim Buddeln einer Baugrube – ebenfalls typisch Köln – auf Reste römischer Zivilisation gestoßen ist und die nun angemessen erhalten muss. Beispielsweise vor dem künftigen Rheinboulevard im rechtsrheinischen Stadtteil Deutz. Die Promenade wird seit Jahren umgestaltet, auch hier dauert alles länger als geplant. Schuld daran unter anderem: Turm- und Mauerreste eines römischen Kastells, Grabstätten und das Fundament eines mittelalterlichen Wehrturms.

Die Sightjogger laufen im Zickzack über Holzplanken an den Ausgrabungen vorbei. Am Kopf der Hohenzollernbrücke in Deutz halten sie an und sehen HobbyKletterern zu, die sich an den Brückenwänden aus Muschelkalk hochziehen. Auf der hüfthohen Mauer am Rheinufer sitzen junge Frauen und Männer entspannt in der Abendsonne.
Ziellauf Richtung Kölner Innenstadt. Die Sonne und die Anstrengung haben Simone und Michael einen Glückshormon-Schub beschert. Leichtfüßig joggen sie über die Brücke. Kölle ist ein Gefühl. Und das kommt besonders beim Laufen.

Kirsten Lange

fairkehr 5/2023