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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 2/2014

Europa wählen

In Deutschland ist der 25. Mai 2014 Wahltag für das Europäische Parlament. Mit ihrer Stimme entscheiden die Bürger auch über mehr Demokratie oder eine bessere Verkehrspolitik.

Foto: iStockphoto.de/HarvepinoThemen der Wirtschaft, zur Ernährung, zu Fluggastrechten, zum Datenschutz oder zur Haushaltspolitik: Das Europäische Parlament bestimmt die Richtung wesentlich mit, die Bürgerinnen und Bürger der 28 Länder der Europäischen Union entscheiden über dessen politische Zusammensetzung.

Demokratie und EU? Scheint für viele immer noch nicht zusammenzupassen. Noch ist viel von ausufernder Bürokratie die Rede, der nicht gewählten EU-Kommission und von einem schwachen Parlament. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat jüngst verkündet, dass die Zersplitterung des Parlaments beim Wegfall der 3-Prozent-Hürde für kleine Parteien nicht so tragisch sei. Die Unterstellung: Richtige Demokratie findet in der EU nicht statt und diese ist auf nationaler Ebene sowieso besser aufgehoben.
Dabei leben wir längst in einer postnationalen Demokratie. Das wird nur nicht gerne thematisiert. Besonders in den großen Mitgliedstaaten vermitteln die Regierungen gern den Eindruck, es gehe um die Zusammenarbeit von autonomen Regierungen.

Geht es aber nicht: Die meisten Entscheidungen, jenseits des hektischen Krisenmanagements in Sachen Euro fallen in einem demokratischen Prozess zwischen Regierungen und dem direkt gewählten europäischen Parlament. Zusammen mit den Regierungen im Rat macht das Parlament europäische Gesetze. Die EU-Kommission hat zwar das alleinige Vorschlagsrecht für Gesetze, kann die aber nicht beschließen. Sie ist auch keine echte Regierung, sondern in den meisten Bereichen eine Verwaltung – mit sehr unterschiedlichen Aufgaben.

Allerdings stimmt es, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger Schwie­rigkeiten haben, diesen demokratischen Prozess zu verfolgen. Auch spuken ihnen immer noch Stereotype der Vorzeit und die sorgfältig gepflegten Bürokratiemythen durch die Köpfe. Dabei waren es nicht Brüsseler Bürokraten, die uns beispielsweise das vielzitierte Glühbirnenverbot verordnet haben. Es stützt sich auf eine vom Parlament und Rat angenomme Richtlinie, also ein europäisches Gesetz. Für die deutschen Feuilletonisten, die in der Glühbirne den Eurokratenwahn sehen, spielt das keine Rolle.

EU-Politik ist berechenbar

Ein abrupter Richtungswechsel, wie er häufig national nach Wahlen einsetzt, in der EU-Fachpolitik eher selten. Meistens geht es um längere Prozesse, um Angleichung und Fortentwicklung. Die Emissionsgrenzwerte für Autos von Euro I bis Euro VI sind dafür ein erfolgreiches Beispiel. Autos sind heute wesentlich sauberer als vor 20 Jahren. Das wäre national niemals geglückt. Auch ist die angekündigte schrittweise Verschärfung ein transparentes Verfahren für Industrie und Autofahrer.

Ähnliches, wenn auch politisch umstrittener, passiert mit den CO2-Grenzwerten, die für 2020 festgelegt wurden. Die finanzielle Unterstützung von grenzüberschreitenden Infrastrukturprojekten durch EU-Gelder ist ebenfalls berechenbar. Sogar das bereits erwähnte Glühlampenverbot fiel nicht vom Himmel, sondern war Teil der umfassenden Öko-Design-Richtlinie, die Effizienzstandards für verschiedene Produkte verschärft. Das kann man politisch alles viel zu lasch oder grundsätzlich umweltfeindlich finden. Es hat aber wenig mit dem Prozess und den Eurokraten zu tun, sondern mit den politischen Mehrheiten in Rat und Parlament.

Foto: iStockphoto.de/shock Hat die Jugend den Weg nach Europa noch vor sich oder gehts zurück? Die Wahl entscheidet auch darüber.

Verbindliche EU-Gesetze wirken

Die Stabilität der Gesetzgebung hat im Wesentlichen positive Auswirkungen: Im Naturschutz zeigt sich, dass die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union auch in Deutschland oft ein Rettungsanker war. Diese hat die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen zum Ziel. Ohne sie wäre auf lokaler und regionaler Ebene sicher viel unter die Räder gekommen.

Ja, natürlich sitzen auch in Brüssel Lobbyisten am Tisch und beeinflussen Politik. Aber auch das ist kein Alleinstellungsmerkmal europäischer Demokratie. Wo hat nun BMW mehr Einfluss, in Berlin oder Brüssel? Die Umwelt-NGOs sind beispielsweise in Brüssel gar nicht so schlecht organisiert und haben durchaus was zu sagen.

Kommt ein Gesetz zustande, sind das in der EU verbindliche Absprachen. Dass souveräne Staaten sich diesen europäischen Gesetzen unterwerfen, auch wenn sie nicht dafür gestimmt haben, ist das Revolutionäre. Deshalb ist es auch absurd, wenn sich deutsche Regierungsmitglieder über die Kommission beschweren, die sie vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Das ist nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern der Kitt, der alles zusammenhält.

Kandidaten benennen

Welche Rolle spielt das Parlament im Jahre 2014? Was immer noch zu wenige wissen: Es sind meistens sachorientierte Parlamentarier, die in starken Ausschüssen mit den Mitgliedstaaten den Inhalt neuer Gesetze verhandeln. Die Populisten konnten bisher erfolgreich bekämpft werden. Sie haben in der EU, auch dies anders als in vielen Mitgliedstaaten, den Diskurs bisher noch nicht bestimmt. Genau das steht auf dem Spiel, wenn in verschiedenen Ländern EU-Gegner massiv ins EU-Parlament gewählt werden.

Demokratiedefizite? Natürlich sind die Parlamentswahlen dominiert von nationalen Themen. Natürlich fehlt noch die Anbindung an Wahlkreise und Kandidaten, auch wenn die europäischen Parteien dieses Jahr ihre Spitzenkandidaten benennen. Werden die Sozialdemokraten stärkste Fraktion, dann würde wohl der deutsche Martin Schulz Kommissionspräsident. Wird es die europäische Volkspartei, zu der die CDU/ CSU gehört, wo aber leider auch immer noch Berlusconis Leute mit am Tisch sitzen, gilt das für Jean-Claude Juncker. Postnationale Demokratie braucht europäische Parteien und bekanntes europäisches Spitzenpersonal. Was insbesondere fehlt, ist eine nationale Medienöffentlichkeit. Wie oft haben Sie einen Europaparlamentarier in einer deutschen Talkshow gesehen? Wie viele fallen Ihnen spontan ein? Wichtige ausländische Parlamentarier oder Kommissare kommen im deutschen Fernsehen nicht vor. Deutsche unter sich diskutieren die EU, als ob es in der EU nicht schon lange um Interessen geht, die sich eben nicht immer an der Nationalität festmachen, sondern am politischen Standpunkt.

Fotos: Martin Schulz: Wikipedia/Foto-AG Gymnasium Melle; Jean-Claude Juncker: Wikipedia/ZinnekeErstmals können die Bürgerinnen und Bürger mit entscheiden, wer Präsident der Europäischen Kommission wird. Die Sozialdemokraten Europas haben Martin Schulz (links) zum Spitzenkandidaten nominiert. Die CDU unterstützt den Luxemburger Jean-Claude ­Juncker (rechts) als Spitzenkandidaten der Konservativen.

Bundesstaat oder Nationalstaat?

In Zeiten der Eurokrise hat das Parlament leider wieder an Einfluss verloren, da die Mitgliedstaaten Macht an sich gerissen haben. Das ist insbesondere für kleinere Mitgliedstaaten schmerzhaft, die eben nicht die politische Power einer Angela Merkel mit nach Brüssel bringen.

Wer renationalisieren möchte, stärkt die Machtspiele jenseits der EU-Institutionen. Deshalb wäre es wichtig, die EU in Richtung Bundesstaat weiterzuentwickeln, also mit der Kommission als einer Regierung, die von einer Mehrheit des Parlaments gestützt wird. Der Liberale Guy Verhofstadt aus Belgien und der Grüne Dany Cohn-Bendit haben dafür vor Jahren eine Blaupause vorgelegt. Heute haben immer weniger Regierungen den Mut, das Wort Bundesstaat in den Mund zu nehmen. David Cameron, Premierminister des Vereinigten Königreichs, möchte bekanntlich erhebliche Bereiche renationalisieren, das heißt auch das Parlament wieder entmachten. Ansonsten droht er ganz offen mit dem britischen EU-Austritt.

Auch hier kommt der merkwürdige Gedanke zum Ausdruck, es gebe ein definiertes britisches nationales Interesse und keine unterschiedlichen britischen Standpunkte, die in den europäischen Politikprozess eingehen. Auch darum ist das europäische Parlament so wichtig: Die EU ist längst keine Veranstaltung von nationalen Interessen mehr, sondern von europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Und diese werden durch das Parlament repräsentiert, mit all seinen bisherigen Unzulänglichkeiten.

Natürlich war und ist die EU immer noch eine muntere Baustelle der Demokratie. Jetzt gibt es seit kurzem Bürgerbegehren. Im Bereich Wasser wurden in ganz Europa Unterschriften gesammelt und Druck aufgebaut. So wie es zurzeit auch national und regional um demokratische Innovationen geht. Mehr direkte Bürgerbeteiligung durch Referenden? Da war doch was mit einem Stuttgarter Bahnhof. Demokratie 2014 bedeutet wohl leider, dass wir verschiedene Baustellen gleichzeitig bearbeiten müssen. Dabei ist die europäische sicher nicht die hoffnungsloseste. 

Martin Unfried

fairkehr 5/2023