fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

Obere Wilhelmstraße 32 | 53225 Bonn | Telefon (0228) 9 85 85-85 | www.fairkehr-magazin.de

Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2014

Bewegende Bits und Bytes

In den 90ern hatten Mobilitätsforscher Visionen vom vernetzten Unterwegssein mit allen Verkehrsmitteln. Das Web 2.0 macht die Visionen real, setzt Trends und erfindet Aktionsformen.

Ende der 90er Jahre schrieben Mobilitätsforscher in einer Studie über den Stadtverkehr der Zukunft: „Mobilitätsgarantie bedeutet, dass sämtliche Verkehrsmittel als Netz vorgestellt und ständig verfügbar gemacht werden. Der Schlüssel zu diesem Netz und das Symbol der damit verbundenen Beweglichkeit ist eine Magnetkarte im Scheckkartenformat.“ Mit der sollte man auch problemlos zahlen können: Bus, Bahn, Car-sharing und Taxi. „Alles in einer Karte, dachten wir damals. An so etwas wie Apps und das mobile Internet konnten wir noch nicht denken“, sagt Konrad Götz vom ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung Frankfurt/Main.
Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des VCD und war an der Studie „CITY:mobil“ beteiligt. Die Wirklichkeit gewordene Vision sieht so aus: Alles in einem etwa sechs bis acht Zentimeter breiten, 12 bis 14 Zentimeter langen und knapp einen Zentimeter schmalen Böxchen mit ganz vielen Bits und Bytes – kurz: Smartphone. „Vernetzte Mobilität war schon immer machbar“, so Götz, „aber sie war mühsam.“ Das Smartphone ermögliche Intermodalität – wie das entspannte Wechseln vom Fahrradsattel in den Bus, ins Leihauto auf Mobilitätsforscherdeutsch heißt – viel problemloser als jemals zuvor.

Götz’ Paradebeispiel dafür ist das Autoteilen, vor allem das sogenannte Free-Floating-Carsharing von Anbietern wie car2go oder DriveNow. Erst die Online-Vernetzung und ein Mini-Programm, eine App, die auf dem Smartphone in der Hosentasche läuft, machen es bequem möglich, den Kleinwagen am Straßenrand kurzfristig zu mieten, eine Strecke in der Stadt zu fahren und im Anschluss, wenn gewünscht, die U-Bahn ins Umland zu nehmen oder mit dem Leihfahrrad in den Kiez zu radeln. Auch Angebote wie Mitfahrzentralen und privates Autoteilen werden durch die neue Technik erheblich einfacher oder überhaupt erst Realität. Altbewährte Fortbewegungsarten wie Bus- und Bahnfahren gewinnen durch dazugehörige Apps an Attraktivi- und Flexibilität. „Je niedriger die Zugangshürde ist, also beispielsweise durch Gratis-Apps, desto mehr Mini-Programme für Multimodalität haben die Menschen auf ihren Smartphones“, stellt Konrad Götz fest (siehe: App-Test).

Netz-Schönheit ändert Realität

Bei den genannten Beispielen ist Technik die Voraussetzung fürs freie und flexible Unterwegssein – in anderen Bereichen, beispielsweise beim Fahrradfahren als wachsender Trend in den Städten, spielt die Kommunikation via Web die entscheidende Rolle. In diversen Fahrradblogs spiegeln sich die realen Vorlieben der unterschiedlichen Radlertypen wider, sehen Internetnutzer schöne Menschen auf schönen Rädern fahren, beschreiben Kenner, Überzeugte, Stil-Vorbilder, wie intelligent, sinnvoll und sexy Radfahren ist (siehe: der Einfluss der Blogs).

Lebensstilforscher Götz spricht von einer „ästhetischen Trendspirale nach oben“. Kommunikation über verschiedene Kanäle, on-, aber auch offline, kann dazu beitragen, dass sich die mobile Realität ändert. Und sie kann aus jungen Studenten der Verkehrswissenschaften gefragte Zukunftsmobilitätsexperten und Grimme-Preisträger machen.

Kommunikation über Social-Media-Kanäle lässt nicht nur Mobilitätstrends entstehen oder verstärkt sie – sie gebiert auch neue Aktionsformen beziehungsweise haucht alten neues Leben ein. Fahrradsternfahrten, die ein Zeichen für mehr Platz für den Radverkehr setzen wollen, sind keine aktuelle Erfindung: Ihre jüngste Multimedia-Erweiterung heißt nun „Critical Mass“ und lebt davon, dass die Teilnehmer sich übers Netz finden und verabreden. Ähnliches gilt für Aktionen wie den „Flashmob“. Originelle Protestformen gegen gesellschaftliche Missstände oder politische Fehlentscheidungen gab es bereits vor der fieberhaften Verlegung von Glasfaser- und Breitbandkabeln. Doch das Internet und die sozialen Medien machen es leichter denn je, die Massen zu mobilisieren.

Davon profitieren auch Erfinder, Designer, Künstler oder Verkehrspolitiker: Eine neue Entwicklung ist das sogenannte Crowdfunding. Wer beispielsweise ein noch nie dagewesenes Navigationssystem, einen besonders schönen Radfahrerbildband oder gleich ein völlig neues Fortbewegungsmittel verwirklichen will, ruft übers Netz zu (Klein-)Spenden auf. Kommt ausreichend Geld zusammen, wird das Projekt umgesetzt. Beim Crowdsourcing wiederum ist nicht das Geld, sondern das Wissen der Masse gefragt: Der Berliner Senat will auf diese Weise zurzeit gefährliche Kreuzungen für Radfahrer entschärfen.

Bits und Bytes verändern also die reale Mobilitätswelt. Doch es ist kein Einbahnstraßenprozess, sondern digitale Technik und wahres Leben beeinflussen sich gegenseitig. „Technik wird genutzt, es zeigen sich Fehler, sie wird angepasst“, sagt Konrad Götz. „Die Menschen entwickeln Phantasien, was man mit der Technik noch verwirklichen kann, sie schaffen neue Nachfrage, die Technik wird wieder verändert. Das ist ein Kreislauf, ein soziotechnisches System.“

Kirsten Lange

fairkehr 5/2023