Reise 1/2014
Katalonien – alles unter der Sonne
Hochgebirge und Traumstrände, Stadt und Natur, Aktivität und Entspannung, Weltoffenheit und Nationalismus: Die spanische Region Katalonien verbindet viele Gegensätze.
Tancat! Geschlossen!“ war eines der ersten katalanischen Wörter, die ich lernte. Ich war ausgerechnet am 11. September 2004, dem katalanischen Nationalfeiertag „La Diada“, in Barcelona angereist. Die meisten Geschäfte und Restaurants waren geschlossen, gähnende Leere auf den Straßen. Kaum Betrieb gabs auch am Infostand der Partei Esquerra Republicana de Catalunya auf dem Platz am Arc de Triunf. Die ERC war damals noch die einzige Partei, die sich für eine Abspaltung Kataloniens von Spanien einsetzte. Sie gehörte zu den politischen Außenseitern.
Neun Jahre später, am 11. September 2013: Knapp zwei Millionen Katalanen fordern nach dem Aufruf der separistischen Initiative „Katalanische Nationalversammlung“ in einer 400 Kilometer langen Menschenkette „Independència“ – die Unabhängigkeit vom spanischen Staat.
Was ist passiert? Die hohe Arbeitslosigkeit hat auch Katalonien getroffen. In vielen Familien bekommen die Kinder zu Weihnachten Schulbücher als Geschenk verpackt. Für mehr reicht das Geld nicht. Dringende Operationen werden aufgrund der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen um Monate verzögert. Wer es irgendwie schafft, finanziert die medizinische Behandlung privat. Über 50 richterlich erwirkte Wohnungsräumungen pro Tag sind nach fünf Jahren Krise immer noch auf Rekordhoch. Meine katalanischen Schwiegereltern teilen sich ihre 70 Quadratmeter große Wohnung seit einem Jahr mit Enkelkind und zwei Urenkeln, weil deren Eltern die eigene Wohnung aufgeben mussten, nachdem sie die Hypothek nicht mehr zahlen konnten.
Gleichzeitig empört sich die Bevölkerung über ständig neue Korruptionsskandale in Politik und Wirtschaft, die scheinbar ohne Folgen für die Verurteilten bleiben. „Prou!“ Genug davon, sagen die Katalanen. Sie schließen sich zur „15-M“-Bewegung, ähnlich der „Occupy Wallstreet“-Proteste, oder zu gewerkschaftlich organisierten Massendemonstrationen zusammen – gemeinsam mit der Bevölkerung im übrigen Spanien.
Die Katalanen haben genug
Warum die Katalanen trotz der gemeinsam erlittenen Krise die Unabhängigkeit von Spanien wollen? Es geht wie so oft ums Geld. Katalonien ist die wirtschaftsstärkste autonome Gemeinschaft Spaniens – inzwischen aber auch die höchstverschuldete.
Als wirtschaftliches Sorgenkind muss die katalanische Landesregierung inzwischen sogar Rettungspakete in Madrid beantragen. Die Katalanen machen die hohen Abgaben an die Zentralregierung und die geringen Rückflüsse für ihre Lage verantwortlich und fordern das Recht auf Selbstbestimmung ein. Dem erteilt der in Madrid regierende Ministerpräsident Rajoy eine klare Abfuhr. Artur Mas, Präsident der Generalitat, heize die Separatismusdebatte bewusst an, um von seiner eigenen Misswirtschaft abzulenken. Bei einem positiven Ausgang eines Referendums für eine Abspaltung Kataloniens habe Mas zumindest nicht mehr die Möglichkeit, die Schuld der Krise der Zentralregierung zuzuschreiben, kontern Separatismusbefürworter.
Kein Problem für Touristen
Sonne, Strand, Paella – für den Urlauber bleibt alles beim Alten. Auf ein Katalanisch-Lexikon im Reisegepäck kann man getrost verzichten. Schließlich verfallen die meisten Katalanen automatisch in Spanisch oder Englisch, wenn sie mit Touristen zu tun haben, und geben sich ganz als Europäer. Der Tourismus ist aktuell eines der wichtigsten Standbeine der katalanischen Wirtschaft. Die Tourismusbehörde tut alles dafür, um mehr ausländische Gäste ins Land zu bringen. So kann es gut sein, dass dieses Jahr auch an katalanischen Feiertagen „Obert!“, „Geöffnet!“ statt „Tancat!“ auf den Türen steht.
Jutta Hübener