fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 6/2013

Grau war gestern

Malurlaub in Leipzig – weil im Arbeitsalltag oft zu wenig Zeit ist, um Schönes zu lernen.

Foto: Beate FahrnländerMalen im Sommerurlaub kann ­entspannender sein als Dösen am Strand – nachhaltiger und produktiver ist es in jedem Fall.

Andere liegen jetzt am Strand, ich stehe mit kurzer Hose und Flip- flops an meiner Staffelei und schwitze auch. Durch die riesigen Atelierfenster fällt die Augustsonne auf mein halbfertiges Bild und lässt ein frisch angemischtes Grau strahlen, als sei es die lebendigste Farbe auf dem Planten. Moment mal, Grau, ist das nicht der öde Ton, der mich im Winter zur Verzweiflung bringt, die Standardfarbe mit dem winterlichem Dauerabo, der Inbegriff von Tristesse und Depression? Hier, auf meiner Leinwand, gleich neben Türkis, strahlt das Grau freundlich, frisch und farbenfroh. Die Mischung macht’s, sagt mein Kursleiter und zwinkert. Ich werde die Lektion dankbar mit in den Alltag nehmen. Vor allem im Dezember.

Wir Kursteilnehmer, insgesamt acht Männer und Frauen aus ganz Deutschland im Alter zwischen 25 und 65 Jahren, verbinden eine Woche Malen mit Stadturlaub in Leipzig. Die meisten sind berufstätig. Einige kommen jedes Jahr zu Rayk Goetzes Sommerakademie. Diesmal ist das Thema Porträtmalerei.

Ab und zu schiele ich zu Barbara hinüber. Barbara ist hauptberuflich in der Kunst unterwegs, als Illustratorin von Kinderbüchern. Der Kurs ist für sie pure Entspannung, frei will sie werden und eingetretene Pfade verlassen. Könnten wir tauschen, würde ich ihr liebend gern meine freien Pfade überlassen und dafür ihre Maltechnik übernehmen. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine schlendere ich bei Willi vorbei. Es riecht nach Ölfarbe. Willi produziert ein Bild nach dem anderen. Er hat schon eine ganze Galerie von Porträts um seine Staffelei versammelt, die er irgendwann ausstellen will. Eigentlich ist er Geschäftsmann. In Süddeutschland hat er ein Modelabel, ist dauernd auf Achse und unter Zeitdruck. Die Malerei bedeutet ihm Konzentration auf das Wesentliche, das Sichversenken in den Moment, sinnliches Erleben von Farbe und Form. Er ist zum dritten Mal dabei und erzählt, dass er den Malvirus inzwischen auch zu Hause hat und jeden Sonntag im eigenen Atelier steht. Bettina ist unser Kücken. Sie spielt mit dem Gedanken, Kunst zu studieren, und will herausfinden, ob die Arbeit im Atelier wirklich etwas für sie ist. So bringt jeder seine eigene Geschichte und Motivation mit in den Kurs, alle sind unterschiedlich erfahren in der Malerei, „alles kann, nichts muss“, wie Kursleiter Rayk zu sagen pflegt.

Foto: Bernd Scheller, Bilder von Beate FahrnländerKunst- und Malkurse im Urlaub bieten zahlreiche Kunst- und Hochschulen als Sommerakademien an.

Mittendrin steht, nein, wieselt Rayk, der Künstler und Lehrer, von einer Staffelei zur anderen, gibt Hilfestellung, spricht Mut zu, tröstet und besänftigt, wenn das intensive Beschäftigen mit dem Objekt Blockaden löst und die Gefühle der Teilnehmer in Bewegung kommen. Denn auch das gehört dazu: Emotionen. Das Schöne daran: Niemanden stört es, wenn mal Tränen fließen oder Schimpftiraden raus müssen, wenn mit jeder neuen Farbschicht ein Stück verdrängtes Leben aufgeblättert und die Leinwand als Stellvertreter für ein vergessen geglaubtes Gefühl steht.

Treiben lassen durch Leipzig

Mittag. Es mag ja sein, dass mancher Künstler nur von Wasser und Brot lebt, aber so weit geht die Liebe zur Kunst dann doch nicht. Malen ist Arbeit, malen macht hungrig. Da sich unser Atelier mitten in Leipzig, gleich gegenüber der Nikolaikirche befindet, ist die Auswahl zur Verpflegung groß. Mit einem Fahrrad, das ich mir gleich bei Ankunft am Hauptbahnhof geliehen habe, radele ich ein paar Straßen weiter zum Bioladen mit Mittagstisch. Im Schatten der wunderschön restaurierten Stadthäuser haben etliche Lokale Tische und Stühle aufgestellt.

In den letzten Tagen habe ich mich nach Atelierschluss mit wachsender Begeisterung durch die Gassen, Alleen und Parkanlagen Leipzigs treiben lassen. Mit dem Fahrrad unterwegs sein heißt unabhängig sein. Mal hierhin, mal dorthin fahren, halten, wo es gefällt. Auf der Sachsenbrücke habe ich mich zu den Jugendlichen gesetzt, die dort ihr Bier trinken und über den Tag reden, auf einer Parkbank im Clara-Zetkin-Park habe ich den Alten beim Schachspiel zugesehen und im trendigen Stadtteil Plagwitz bin ich durch die Kunstgalerien der alten Spinnerei geschlendert, habe Museen und Konzerte besucht.

Mit anderen Augen sehen

Nach der Mittagspause geht es weiter im Atelier. Eine Weile kehren wir unseren Staffeleien den Rücken zu. Es ist Inputstunde. Unser Anschauungsmodell: Hans-Peter, der Totenschädel. Wir lernen, wie der menschliche Kopf proportioniert ist, dass die Augen normalerweise genau in der Mitte des Schädels liegen und worauf wir achten müssen, damit unser Porträt nicht aussieht wie ein liegen gebliebenes Osterei. Das ist überaus spannend, und ich stelle fest, dass ich von nun an mit ganz anderen Augen in die Gesichter meiner Mitmenschen sehe. Wieder etwas gelernt: Es kommt nicht nur auf die Perspektive an, sondern auch auf den Grad meiner Aufmerksamkeit. Nur: Das, was ich erkenne, will partout nicht so auf die Leinwand. Ach was, ich bin im Urlaub und eher expressionistisch unterwegs. Also nehme ich es nicht so genau mit den Gesetzen der Anatomie und sehe großzügig über zu lange Nasen, zu große Augen und zu rote Münder hinweg.

17 Uhr, es sind 33 Grad, draußen wie drinnen. Einige Unermüdliche wollen noch bleiben und weitermalen. Mich zieht es hinaus an den Connewitzer See, den ich in 30 Minuten mit dem Fahrrad erreiche, immer entlang der Elster, durch Auen und schattige Wälder. Der See ist eine Empfehlung meiner Gastgeberin, die in einer alten Gründerzeit-Villa mit verwunschenem Garten wohnt, nur fünf Fahrradminuten vom Atelier entfernt. Die gesamte erste Etage mit zwei Zimmern und offener Wohnküche hat sie mir für 50 Euro am Tag überlassen. Der Schlüssel war wie verabredet unter der Fußmatte. Außerdem nicht verabredet und umso netter: eine Flasche Wein, eine Liste mit Tipps für Ausflüge und Restaurantbesuche sowie die Aufforderung, mich doch bitte an Kühlschrank, Kaffee und sonstigen Vorräten einfach zu bedienen.

Gebucht habe ich mein Quartier über die Online-Plattform Airbnb. Von meiner Gastgeberin weiß ich nur, dass sie Nina heißt, Musikerin ist und zurzeit Urlaub macht. Ich fühle mich wie zu Hause, gieße ihre Pflanzen und finde wieder einmal: diese Mischung aus fremd und vertraut, aus tun und treiben, aus lernen und lachen ist die perfekte Erholung. Und zum Abschluss des Tages das Bad im kühlen Connewitzer See mit anschließendem Sundowner in der Strandbar lässt dann keinen Zweifel mehr zu: Es ist Urlaub!

Gitti Müller

fairkehr 5/2023