fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 6/2013

Moderne Frauenbewegung

Frauen bewegen sich anders als Männer. Bisher sind sie ökologischer mobil, allerdings steigen auch sie zunehmend aufs Auto um.

Foto: iStockphoto.de/Joni RDer typische Tag einer Mutter auf dem Weg zur Arbeitsstelle besteht aus einem Gewirr von Wege­­ketten.

Was für ein Anblick in Berlin-Mitte: Der Bundesverkehrsminister im Freizeitdress schiebt ein fröhlich krähendes Kind vor sich her. Sein Enkelkind? An einer Fußgängerampel drückt er auf das Haltesignal für die dahinbrausenden Autos und wartet … wartet … wartet … „Hallo Herr Minister, schön, dass Sie so was mal nicht aus der Heckscheibenperspektive Ihres Dienstwagens erleben, sondern aus der Mutti-Perspektive“, ertönt eine weibliche Stimme. „Sie müssen bei Grün losrennen, sonst wird Ihr Nachwuchs im Abgasnebel vergiftet, weil Sie auf dem Mittelstreifen verenden.“ Die Ampel springt auf Grün, alle hetzen los, sie springt auf Rot. Hechelnd, im letzten Moment, die Lunge voller Abgase, erreicht der Minister die rettende Bordsteinkante auf der anderen Seite der sechsspurigen Ausfallstraße. „Danke, ich habe verstanden“, japst er.

Ach, schön wärs. Leider ist das ist nur eine Fantasie angesichts der täglichen Gnadenlosigkeit, mit der diese automobile Gesellschaft mit den Nicht-Autobewaffneten verfährt. Natürlich ist eine Ampelschaltung nur eine Marginalie. Aber eine von der Sorte, die berufstätigen Müttern den Tagesbeginn wortwörtlich vergiften kann.

Die halten hierzulande einen Rekord: Sie legen täglich die meisten Wege zurück, in der Regel für die Familienversorgung. Laut der Studie „Mobilität in Deutschland“ von 2008 – neuere verlässliche Zahlen gibt es nicht – düst eine Durchschnittsmama pro Tag rund 40 Kilometer durch die Gegend, bringt 4,3 Wege hinter sich und ist dafür knapp anderthalb Stunden unterwegs. Eine sehenswerte Leistung, die bisher weder vom Bundesverkehrsminister gewürdigt, geschweige denn mit einem Sportpreis geehrt wurde.
Der typische Tag einer Mutter besteht aus einem Gewirr von Wegeketten: erst die Kinder in die Kita und die Schule bringen, dann zur Arbeit, wieder zurück, Nachwuchs wieder abholen, auf dem Heimweg einkaufen, bei der Oma vorbeischauen, ihre Medikamente in der Apotheke besorgen, Paulchen zum Geigenunterricht bringen, Paulinchen zum ­Ballett, Sohn wieder abholen, Tochter einsammeln, und abends Ach-was-sind-wir-für-eine-glückliche-Familie. Das Wegemuster eines typischen Mannes hingegen führt im Auto zum Arbeitsplatz und wieder zurück, vielleicht noch mit einem Besorgungsschlenker.

Frauen brauchen weniger Sprit

Das weibliche Geschlecht verbraucht deutlich weniger Benzin als das männliche. Eine Frau legt in Deutschland laut der Leitstelle Gender, Umwelt und Nachhaltigkeit pro Jahr durchschnittlich rund 10000 Kilometer mit dem Auto zurück und bucht 0,8 Flüge. Ein Mann hingegen fährt im Schnitt jährlich fast 18000 Kilometer im Pkw und fliegt knapp dreimal. Frauen kaufen außerdem weniger und kleinere Autos als Männer. 2012 war laut Statistischem Bundesamt nur ein Drittel der Käuferinnen und Käufer weiblich. Jede zweite erstand nach Zahlen des Verkehrsclubs Österreich 2011 einen Kleinwagen und nur jede zehnte einen Geländewagen. Männer hingegen setzen auf PS: Bloß jeder vierte war mit einem Kleinwagen zufrieden, ebenfalls jeder vierte begehrte einen SUV-Benzinfresser.

Sind Frauen also die ökologischen Vorreiterinnen? Sind Männer die ewig Gestrigen, mit Adrenalin im Automotor, Benzin im Blut und Testosteron im Tank? Die Zahlen scheinen dafürzusprechen. Letztlich jedoch sind das Klischees, die den unterschiedlichen Personengruppen nicht gerecht werden. Es gibt auch die rücksichtslosen Raserinnen im Rover. Oder die leidenschaftlichen Vorradler, die sich fürs Klima und den Weltfrieden abstrampeln – bei jenen, die kein Wind oder Wetter aus dem Sattel fegen kann, überwiegt das männliche Geschlecht.

Foto: Marcus GlogerBei Berufstätigen ohne Kinder ist das Mobilitätsverhalten beider Geschlechter nahezu gleich.

Weitere klischeezersetzende Trends: Für junge Menschen beiderlei Geschlechts in Großstädten ist das Auto als Statusobjekt zunehmend uninteressant, während die Gesamtzahl der älteren weiblichen Führerscheinbesitzer und der automobilen Seniorinnen seit Jahren steigt. Bei Erwerbstätigen ohne Kinder wiederum ist das Mobilitätsverhalten beider Geschlechter nahezu gleich. „Die Stärke des Einflusses der Geschlechtszugehörigkeit auf die Mobilität variiert deutlich in Abhängigkeit von der Lebenssituation und der Lebensphase“, formulieren die Autoren von „Mobilität in Deutschland“.

Und von Status, Geldbeutel und Wohnregion, müsste man ergänzen. Eine sozialempirische Studie des Instituts für sozialökologische Forschung ISOE etwa förderte zwar ein „vom Auto geprägtes Mobilitätsleitbild“ in der bundesdeutschen Gesellschaft zutage. Allerdings mit höchst unterschiedlichen Mobilitätstypen. Im ostdeutschen Schwerin ist das Auto „ein zentraler symbolischer Ausdruck für die gesellschaftliche Integration“, wie Verkehrsforscher Konrad Götz vom ISOE schreibt. Der Anteil des Autos am Gesamtverkehr hat dort seit der Wende kontinuierlich zugenommen. Im radelfreundlichen Freiburg wiederum „gibt es deutliche Hinweise, dass eine Eindämmung der automobilen Vorrangstellung zumindest begonnen hat“ und der Pkw-Anteil sinkt.

Autos als Schutzhaut

Auffällig war auch der Befund, dass die Blechkiste offenbar ganz verschiedenen emotionalen Bedürfnissen dient: einerseits als „Vehikel für das Erleben von Abenteuer, Risiko und Abwechslung“, andererseits als Schutzhaut gegen mögliche Belästigungen im öffentlichen Verkehr, die vor allem Frauen befürchten.

Mobilitätsverhalten ist immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Deutschland ist sprichwörtlich eine Autokratie – begründet auf Hitlers Autobahnbau, einer übermächtigen Autoindustrie und einem von ADAC und Bild-Zeitung mit Zähnen und Klauen verteidigten Freischein zur Raserei. „Weiter, höher, schneller“ lautet die neoliberale Parole auf den Überholspuren in Unternehmen und auf Straßen. Seit der Wende versuchen Millionen, einen neuen Platz in der gesellschaftlichen (Un-)Ordnung zu finden. „Schlachtfeld Straße“ titelte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1995: Autofahrer agierten immer aggressiver, „beleidigen, spucken und prügeln, manchmal töten sie sogar“. Das Auto fungiere wie ein Körperpanzer, der uns gegenüber anderen anonymisiere und unempfindlich mache, sagt der Aachener Psycho­loge Micha Hilgers, der sich seit ­langem mit der Psychoanalyse des Autofahrens beschäftigt.

Gleichzeitig sorgen Stadtplanung und Verkehrspolitik für die Langfristigkeit von Verhaltensweisen. Sind Wohnen und Arbeiten zerrissen, muss mehr gefahren werden. Sind Straßen erst einmal gebaut, werden sie auch benutzt. Und das, obwohl ein „Weiter so“ angesichts der Klimakrise tödlich ist. Würden alle Chinesen und Inder so fahren wie wir, würde unser Planet in Hitze verröcheln.
Das hält aber auch Frauen nicht davon ab, in die Blechkiste zu steigen. „So sehr ich die Frauen verehre – ich warne vor ihrer Idealisierung“, sagt Micha Hilgers. Gerade sie stünden heutzutage unter Stress, Kinder, Küche und Karriere zu vereinbaren. Auch deshalb habe die Anzahl aggressiv rasender Frauen zugenommen, auch deshalb ihre Aufholjagd auf den Straßen.

Das trifft vor allem auf berufstätige Mütter zu. In etlichen Familien besetzt der erwerbstätige Mann ganztägig die Karre und die Familienkasse erlaubt kein zweites Auto. Wenn doch, füllen gleich zwei bis drei Autos die Garage, darunter nicht selten ein SUV, mit dem man breiträdrig wie im wilden Westen Schneisen durch die Stadt schlagen kann. Laut „Mobilität in Deutschland“ steigt die Autonutzung parallel zu Einkommen und Status. Also: Je mehr Geld, desto Auto. Je reicher, desto mehr CO2.
Mutti darf dann vor allem die Familienchauffeurin spielen. So entstehen vor unzähligen Kitas und Schulen gefährliche Knautschzonen. Denn wenn immer mehr Mütter ihre Schützlinge dort ausladen, wird es für immer mehr Kinder lebensbedrohlich, sich eigenständig durch den Verkehr zu bewegen – eine Aufrüstungsspirale.

Aus demselben Grund ziehen viele junge Mütter aufs Land: Die Kinder sollen sicher aufwachsen. Doch Millionen dieser individuellen Entscheidungen gebären millionenfachen neuen Autoverkehr. Angesichts trostlos schlechter ­öffent­licher Anbindungen wird ein autoloses Landleben schier unmöglich: Arbeitsplatz, Schule oder Läden sind nicht mehr erreichbar. Acht Millionen Menschen in Deutschland können nicht mehr zu Fuß einkaufen: Mehr als 20000 kleinere Lebensmittelläden haben im letzten Jahrzehnt zugemacht, weil Handelsketten sie erst ab einem Einzugsgebiet von 8000 Einwohnern für rentabel halten.

Gute Takte für mehr Sicherheit

Wie also kann man im Interesse der ­Umwelt dafür sorgen, dass beide Geschlechter aus dem Auto steigen? Durch ­geschlechterbewusstes Planen und zielgruppengerichtete Programme, empfiehlt die Raumplanerin Mechtild Stieve vom Institut für Landes- und Raumplanung in Dortmund. Sie verweist etwa auf den „Verkehrszähmer“-Unterricht in Nordrhein-Westfalen, wo Kinder Autos „bezähmen“ lernen, indem sie in Gruppen zu Fuß zur Schule gehen, Bereiche, in denen auch der VCD sehr aktiv ist. Sichere Schulwege und breite Radspuren reduzieren die Zahl der Elterntaxis. Und das von feministischen Stadtplanerinnen entworfene Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“ anstelle der „Stadt des automobilen Pendlers“ verhilft nicht nur Frauen zu mehr Lebensqualität, sondern allen Menschen.

Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender und Verkehrsexperte der Grünen im Bundestag, preist auf seiner Homepage die Methode des „Gender Walk“ an. Im März 2013 nahm er an einem teil und erlebte in der Nürnberger City, wie stressig es sich anfühlt, mit einem Kinderwagen umzusteigen oder unter düsteren Bahnbrücken entlangzugehen.
Psychologe Hilgers empfiehlt, „die vielen kleinen Dinge“ sehr ernst zu nehmen, die die Attraktivität von Bahn, Bus und Rad stärken. U-Bahn-Wagen mit großen transparenten Scheiben und gute Taktzeiten erhöhten das Sicherheitsgefühl für Frauen – und Freundlichkeit sei auch wichtig: „In Dänemark begrüßt ein Busfahrer seine Kunden.“

Ute Scheub

Selbständige Kinder ­– weniger Elterntaxis, dafür sorgen die Kampagnen des VCD: www.zu-fuss-zur-schule.de  und www.klima-tour.de

Der 10. VCD Bahntest

Bereits zum zehnten Mal führt der VCD den Bahntest durch. Die Tests und ihre Ergebnisse sollen dazu beitragen, die Bahn und das Bahnangebot zu verbessern und für Reisende attraktiver zu machen. Ein Schwerpunkt vergangener Jahre war die Überprüfung der Beratungsqualität für Reisen mit der Bahn. Mit den VCD Bahntests der beiden letzten Jahre wurde ermittelt, was getan werden muss, damit mehr Menschen statt mit ihrem eigenen Auto mit dem Zug fahren.

Mit dem Bahntest 2011 überprüft der VCD die von der DB AG formulierten Ziele für mehr Service und Qualität im Bahnverkehr in der Realität. Über einen Zeitraum von fünf Monaten wurden 1404 Fahrten im Fernverkehr der DB AG unter verschiedenen Qualitätsaspekten und Fragestellungen protokolliert.

Anlässlich der Veröffentlichung des VCD Bahntests startet der VCD eine Online-Aktion. Er ruft alle Bahnkundinnen und Bahnkunden auf, ihre ganz persönlichen Geschichten, ihre positiven und negativen Erlebnisse rund ums Bahnfahren zu schildern. Der VCD sammelt die Beiträge zu einem deutschlandweiten Stimmungsbild, wie es um Service, Sauberkeit und Information bei deutschen Bahnen tatsächlich bestellt ist.

fairkehr 5/2023