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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 5/2013

Stadt des Jugendstils

Ein Besuch in Riga, der unbekannten Kulturhauptstadt Europas 2014.

Foto: Roland StuweDas Schwarzhäupterhaus wurde nach der Unabhängigkeit Lettlands wieder originalgetreu aufgebaut.

Erzähle ich, ich war in Riga, folgt unausweichlich die Frage: Hauptstadt von welchem baltischen Staat ist das noch mal? Riga ist die Hauptstadt von Lettland. Doch sie ist wenig bekannt, die Jugendstilstadt und ehemalige Hansestadt, die im Jahr 2014 Kulturhauptstadt Europas sein wird.

Noch am Ankunftsabend schlendern wir trotz fortgeschrittener Stunde bei milder Juliluft durch die sehr lebendige Altstadt. Genießen das erste Bier an einem der Tische auf dem weitläufigen Domplatz und bestellen als Imbiss die für Lettland typischen, deftig-schmackhaften, mit Knoblauch bestrichenen, gerösteten Schwarzbrotstreifen. Dazu entspannte Musik einer jungen Band. Es ist lange hell hier. Zur Sommersonnenwende, die die Letten am 21. Juni groß feiern, wird es nur vier Stunden lang dunkel. Hier lässt sich’s leben – wie auch die folgenden Tage bestätigen.

Bewegte Geschichte

Milda, die Figur des Freiheitsdenkmals am Rande der Altstadt, streckt drei goldene Sterne dem Himmel entgegen. Sie repräsentieren die drei kulturhistorischen Regionen des Landes. In den 1930er Jahren errichtet, der Phase der kurzen Selbständigkeit zwischen den beiden Weltkriegen, hat die Figur die russische und deutsche Besatzung überstanden und symbolisiert den Überlebenswillen der Letten.
Wer Lettland und seine Geschichte verstehen will, muss das lettische Okkupationsmuseum besuchen. 1940 besetzten die Russen das Land. Von 1941 bis 1944 Nazi-Deutschland. Und nach 1945 bis 1991 wieder Russland. In diesen
51 Jahren verlor das Land 550000 Menschen durch Krieg, Deportation, Ermordung und Flucht. Derzeit wird die Ausstellung in der ehemaligen amerikanischen Botschaft gezeigt. Das eigentliche Museumsgebäude, ein großer schwarzer Kasten zwischen den historisch wiederaufgebauten Gebäuden des Rigaer Rathausplatzes, wartet auf einen Erweiterungsbau.

Foto: David HoltDie historische Altstadt von Riga liegt am Ufer der Daugava.

In der Altstadt prägen Kirchen und Wohnhäuser, deren bauliche Wurzel bis ins Mittelalter, in die Hansezeit, zurückreichen, das Bild. Etwa die „Drei Brüder“, eines der ältesten profanen Gebäudeensembles in Riga. Die ehemaligen Handelshäuser haben ihre Besitzer im

15. Jahrhundert mit Merkmalen niederländischer Renaissance-Häuser errichten lassen. Heute spielen zwei Blasmusikanten vor dem Touristenmagnet und wissen sich virtuos auf ihr Publikum einzustellen. Für eine Gruppe Spanier haben sie sofort eine landestypische Melodie parat – die Spanier singen begeistert mit und spenden reichlich. Oder der malerische Backsteinbau des Schwarzhäupterhauses, Blickfang auf den meisten Riga-Kulturführern. Das Gildehaus stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist doch erst 15 Jahre alt. 50 Jahre fehlte es im Stadtbild: Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, 1948 abgerissen, wurde es erst nach der Unabhängigkeit wieder aufgebaut und 1998 feierlich eröffnet. Im Erdgeschoss ist heute die Touristeninformation untergebracht.

Mit dem Rad die Stadt erkunden

Nahe der Johanniskirche, der ältesten Kirche Rigas, bietet ein Radverleih geführte Radtouren an, für zehn Lats, umgerechnet 14 Euro, pro Person. Geführt von Alexandra radeln wir in Gebiete der Stadt, die man als Tourist allein nicht suchen würde. Fast drei Stunden lang zeigt uns die lettische Studentin verschiedene Gesichter der Stadt, die so auch abseits der Touristenpfade Konturen gewinnt. Radwege gibt es kaum, es wird auf den Gehsteigen geradelt. Die Fußgänger scheinen das gewohnt zu sein.

Wir durchqueren die großen Grünflächen nordöstlich des historischen Zentrums – hier liegen die Straßenzüge, die Riga zur Jugendstil-Stadt machen. In der Alberta iela etwa stehen die Gebäude von Michael Eisenstein, dem Vater des russischen Filmregisseurs Sergej Eisenstein, einem der wichtigsten Architekten des Rigaer Jugendstils. Acht der Häuser in der nicht allzu langen Straße sind heute staatliche Architekturdenkmäler. Üppig mit Figuren übersäte Fassaden, die Grenzen zum Kitsch zieht der persönliche Geschmack.

Dann in die Gegenrichtung, über die 500 Meter breite Daugava, die die Stadt teilt und es von hier aus nur noch wenige Kilometer bis zu ihrer Mündung in die Ostsee hat. Hoch ragt hier das moderne Riga, mittendrin die Zentrale der Hansabank. Am Flussufer wird noch an der neuen Nationalbibliothek gebaut, die man in Riga „Schloss des Lichts“ nennt. Sie soll im Kulturhauptstadtjahr 2014 eröffnet werden.

Die Insel Kipsala entlang. Von der abenteuerlich unebenen Kopfsteinpflasterstraße, die sich hier am Ufer entlangzieht, bietet sich ein malerischer Blick auf die Altstadt. Die für Lettland typischen alten Holzhäuser säumen hier die Straßen. Viele aufwendig renoviert, manche dazwischen verfallen. Am Dach eines Hauses die Figur eines lebensgroßen Kängurus. Das habe ein Australier gekauft, der wollte das Haus abreißen. Das Haus wurde zurückgekauft und renoviert – jetzt erinnere das Känguru daran.

Weiter durch den weitläufigen Siegespark mit dem sowjetischen Denkmal, das an den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland erinnern soll. Ein symbolträchtiger Ort für die in Lettland lebenden Russen. Nach der Unabhängigkeit des Landes 1991 erhielten viele von ihnen nicht die lettische Staatsbürgerschaft, da Kenntnis der Landessprache sowie der Kultur und Geschichte des Landes zur Voraussetzung gemacht wurden. Rund 14 Prozent der lettischen Bevölkerung, etwa 290000 Menschen, sind heute noch sogenannte Nichtbürger ohne Wahlrecht.

Der Bauch von Riga

Imposant sind auch die fünf Hallen des Rigaer Zentralmarktes. Sie dienten im Ersten Weltkrieg, als sie noch in Wainoden in Kurland, etwa 200 Kilometer westlich von Riga, standen, als Hangar für die Zeppelin-Luftschiffe des deutschen kaiserlichen Heeres. In den 1920er Jahren wurden die 240 Meter langen Hallen des Luftschiffhafens nach Riga übersiedelt. Heute findet man hier die größte Auswahl an frischen Lebensmitteln im Baltikum. Und kann regionale Köstlichkeiten verkosten, wie die kalte Rote-Bete-Suppe, die weiße Kefirsuppe, den Kümmelkäse, das dunkle, süßliche Roggenbrot. Und dazu Kwas trinken, ein alkoholfreies, aus Roggenmehl und Malz vergorenes Getränk. Noch zahlt man hier in Lats, aber 2014, wenn wir im Kulturhauptstadtjahr wiederkommen wollen, wird Lettland dem Euroraum beitreten und das unbekannte Riga uns damit noch ein Stück näherrücken.

Christian Höller

Informationen

Anreise mit Zug und Fähre: www.wirsindanderswo.de
Quartier: Die Internetplattform Airbnb bietet 250 Unterkünfte – Privatzimmer, Wohnungen, Häuser in Riga
Radverleih und geführte Radtouren: www.rigabicycle.com
Das offizielle Tourismusportal: www.liveriga.com 
Schönes Kino: Splendid Palace – mit Neobarock-Fassade und Neorokoko-Interieur ist das 1923 eröffnete Kino ein architektonisches Juwel mit internationalen Qualitätsfilmen in Originalsprache. Täglich läuft eine halbstündige „Riga-Story“ über die Geschichte der Stadt (in Englisch), auch Besichtigungen sind möglich.

fairkehr 5/2023